Neulich lief mal wieder „I am Legend“ in der Glotze. Kannte ich schon, hatte ich mehr als einmal gesehen, wollte ich nicht nochmal sehen. Aber als ich den Fernseher einschaltete, landete ich zufällig in dem Film und zwar wenige Sekunden nach dem Anfang. Der Protagonist bewegt sich durch ein menschenleeres Manhattan, er Jagd ein Reh. Manns-hohes Gras wächst aus Rissen im Asphalt. Gerade als er seine Beute stellt, kommt ihm ein Löwen-Rudel zuvor. Ich bleibe in dem Film hängen und sehe ihn mit anderen Augen.
Medien Meister
Der Film hat zahlreiche sehr starke Szenen, die eines verbindet: sie machen sich sehr gut auf der Leinwand. Es ist ein enormes kreatives Potential in diesen Streifen geflossen. Daran gemessen ist der künstlerische Gehalt erschütternd gering. Doch es gibt noch viel krassere Beispiele für dieses Phänomen: Transformers, gigantische Roboter kämpfen um die Weltherrschaft. Die Protagonisten wurden mit enormen Aufwand in teils künstlichen, teils realen Settings zum leben erweckt. Allein der Aufwand, einen computergenerierten Robotor in einer Realfilm-Szene natürlich aussehen zu lassen, erfordert immense Meisterschaft und Kreativität. Während ein minimaler künstlerischer Gehalt es trotz kommerzieller Zwänge in „I am Legend“ geschafft hat, kann man das den Transformers nicht vorwerfen.
Ich habe mich Jahrzehnte gefragt, wo die Meisterwerke der bildenden Kunst unserer Zeit sind. Sind Gerhard Richter und Gesellen tatsächlich das Höchste was unsere Kultur hervorbringt? Nein, unsere visuellen Meisterwerke sind in der Matrix, im Herrn der Ringe und in Computerspielen, mit denen ich mich aber nicht mehr auskenne. Kunstwerke wie die Matrix hat keine Epoche vor uns hervorbringen können: Schauspiel, Choreografie, Musik, Lichtkunst, Skulpturen, „Malerei“ verbinden sich zu einem einzigartigen Gesamtkunstwerk. Abertausende unserer begabtesten Künstler arbeiten in CGI-Firmen, bei Spieleherstellern und natürlich in der Werbung.
Kommerz Kunst
Doch unsere Meisterwerke sind vor allem Produkte. In der Antike wurde nicht zwischen Kunst und Handwerk unterschieden. Zwar lässt unser „Handwerk“ in der Regel die künstlerische Liebe zum Werk vermissen, aber unsere Kunst ist meist ein Handwerk – und lässt leider zu oft und genau wie unsere Produkte die Qualität und handwerkliche/künstlerische Liebe zum Werk vermissen. Schließt sich bei uns der Kreis? Ist Kunst und Kultur um ihrer selbst willen ein exzentrisches Pläsier verbohrter Bildungsbürger?
Wir sind als Persönlichkeiten nicht von unserer Kultur unabhängig, ganz im Gegenteil. Wir sind zu einem erheblichen Maße was wir tun und wie wir es tun. Und eben das ist auch Kultur: Kultur sind Tischsitten, Redewendungen, Benimm und Höflichkeit, unser alltäglicher Umgang, die Art, wie wir unsere Arbeit verrichten. Kunst spiegelt immer die Alltagskultur. Kunst steht nie allein, Meisterwerke entstehen auf den Schultern von Riesen – den Meistern der Vergangenheit – und auf unser aller Schultern, denn wir schaffen die Kultur aus der die Meisterwerke hervorgehen.
Ich glaube an das Ideal, dass Kunst frei sein sollte. Doch die überwältigende Mehrheit der Kunst mit der ich im Alltag konfrontiert bin, ist nicht frei sondern verfolgt unerbittlich eins von lediglich zwei universellen Zielen: 1. Sieh her! 2. Kauf mich! Entweder soll Aufmerksamkeit für Werbung oder Umsatz des Werkes selbst erregt werden oder es handelt sich um Werbung. Oder einfacher gesagt: Es ist Eigenwerbung, Werbung für Werbung oder Werbung.
Arbeitsteilung = Delegation
Die enormen Fähigkeiten unserer Kultur sind auf Arbeitsteilung zurückzuführen. Arbeitsteilung ist eine phantastische Errungenschaft. Doch lässt sie sich nicht auf alles anwenden. Ich bin zu einem guten Teil was ich tue und Kultur ist, was wir alle tun. Wir können Kultur nicht delegieren, wir können nicht anders als sie selbst zu erschaffen. Natürlich gibt es Menschen unter uns, die besondere Fähigkeiten besitzen und einen herausragenden Beitrag zu unserer Kultur leisten. Und wir wollen tatsächlich, dass dieses herausragende Schaffen fast ausschließlich unter den Maximen „Sie her!“ und „Kauf mich!“ entsteht? Dass die Sperrspitze unserer Kultur mit derselben Lieblosigkeit produziert wird wie unsere Alltagsprodukte? Und wir wundern uns über die Lieblosigkeit der Letzteren während wir denen Kulturverachtung vorwerfen, die Freiheit für kulturelles Schaffen fordern?
Ideale
Unsere kulturellen Vorreiter sind Vorbilder und Ideale. Justin Biber und Konsorten haben ab einem gewissen Alter unserer Kinder größeren Einfluss auf dieselben als die Eltern. Wir sind was wir tun, Kultur ist was wir alle tun, Vorbilder prägen unsere Kultur, ihre Motive prägen die Vorbilder. Die Existenz und gegebenenfalls Gestaltung des Urheberrechts hat darum großen Einfluss darauf, wer wir sein werden. Sind Geld und Ruhm alles, was im Leben zählt? „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“ [unbekannt] Doch unsere Kultur wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach radikal wandeln. Zumindest hat sie das in den letzten Jahrhunderten getan.
Ein Blick in die Vergangenheit
Wo kommt unsere Kultur her, wer waren wir? Kultur ist das, was ihre Mitglieder tun und wie sie es tun. Was hätten wir, Sie und ich, früher um diese Zeit getan? Die folgende Beschreibung gilt für Bewohner der nördlichen gemäßigten Breiten mit hoher Wahrscheinlichkeit vor dreihundert bis vor dreitausend Jahren.
Sie und ich, wir, Sie bei sich, ich bei mir. Ein kalter Herbst-Abend vor dreihundert Jahren. Nur dreihundert Jahre. Wir haben beide wahrscheinlich mit jemandem geredet, der mit jemandem geredet hat, der mit jemandem geredet hat, der das selbst alles erlebt hat. Um uns herum ist es mehr oder weniger düster. Vielleicht hat einer von uns beiden das Glück, sich ein paar Kerzen leisten zu können, oder stinkende Öllampen. Aber es um diese Zeit wirklich hell zu haben – das kann sicher keiner von uns zweien finanzieren.
Die Arbeit des Tages ist getan, denn im Dunkeln kann man nicht arbeiten. Wir können nicht lesen, ich als Mann mache keine Handarbeiten. Doch genau jetzt prägen wir unsere Kultur. Die Zeit der Reflektion des Tagewerks prägt das Tagewerk. Jetzt arbeitet die Tradition, die Kunst „das Feuer weiter zu tragen, nicht die Asche zu bewahren“ [Gustav Mahler]. Wir singen, wir erzählen unseren Kindern Märchen und uns Geschichten aus unserem Leben. Wir schaffen den Fundus, aus dem die Begabtesten von uns die Meisterwerke unserer Zeit schaffen.
Die Kultur formt Sein und Bewusstsein
Es ist kalt und feucht und zugig. Wie praktisch alle Menschen um diese Zeit in diesen Breiten, sitzen wir wahrscheinlich am Feuer. Wir kennen Feuer ganz genau. Wir haben endlose Stunden hinein geschaut in unserem Leben. Wir wissen genau, wie sich Holz in Asche verwandelt, vom lodernden Scheit zum glühenden Kohlen, zum Zerbrechen in kleinere Scheite, zum Glimmen und Erlöschen.
Was würden wir um diese Zeit tun, Sie und ich, in einer Kultur wie vor 300 oder 3000 Jahren? Ich würde ins Feuer starren, wie alle anderen. Dabei würde ich mir vielleicht Bilder vorstellen wie Hieronymus Bosch, Bilder, die ich natürlich niemals malen könnte. Denn mir würde das Geld für die teuren Utensilien fehlen und ich könnte gar nicht malen – wie sollte ich neben der harten Arbeit in meinem abgelegen Städtchen einen Meister finden und bezahlen? Oder ich würde mir Märchen von der Art ausdenken, die andere Eltern nicht so gern weiter erzählen. Abwegige Märchen, wie ich es auch jetzt tue. Ich könnte kaum Spuren hinterlassen.
Und Sie? Was würden Sie tun? Natürlich, Sie würden ins Feuer starren. Sie wüssten auf die Minute genau, wann der nächste Scheit bricht. Doch Sie hätten keine auch nur entfernt genaue Vorstellung, wie lange eine Minute dauert. Und was würden Sie sonst jetzt gerade tun, am Abend eines kalten Herbsttages?
Kultur kann man nicht delegieren
Stattdessen sitze ich auf dem Sofa. Der Kamin brennt, doch ich starre nicht in sein Feuer. Ich starre ins kalte Feuer eines Tablett-PC Bildschirms und tippe einen abwegig utopischen Text in sein angedocktes Keyboard. Sie blicken ebenfalls auf einen Bildschirm und lesen das Zeug. Wir machen immer noch Kultur. Ich indem ich ein mikroskopisches Tröpfchen zum kulturellen Schaffen beitrage, Sie indem Sie das weitertragen (durchs Erzählen, Liken, Verlinken) oder nicht.
Wow. Wir sind weit gekommen. Und wie soll es weiter gehen mit unserer Kultur? Mal angenommen wir verpassen eine erdrückende Zahl an Möglichkeiten, unsere Zivilisation zu vernichten, wo wollen wir in 30 und 300 Jahren an einem kalten Herbstabend sein und was wollen wir tun? Sie können diese Entscheidung nicht treffen, genauso wenig, wie ich. Aber Sie und ich können mit allen anderen entscheiden, ob und wem wir diese Entscheidung überlassen wollen. Ob wir sie wirklich allein kommerziellen Interessen überlassen wollen.
Und egal wie wir uns entscheiden: Wir können die Entscheidung anderen überlassen, doch abnehmen kann sie uns keiner. Denn Kultur ist das, was wir tun. Kultur kann man nicht delegieren.
Was heißt künstlerischer Gehalt? Ist in solch starken Szenen nicht auch Kunst?
Etwas vom teuersten. Die Reichen haben sich darauf geeinigt, wofür sie am meisten bezahlen wollen. Für sie ist der finanzielle Wert wichtig als Statussymbol, nicht das Künstlerische. So sind die Menschen. Was für ihn das höchste ist, muss jeder selbst entscheiden.
Ja, die offizielle Kunst ist das. Weil reiche Bildungsbürger das Sagen haben.
Wo ist denn unser kulturelles Schaffen nicht frei? Jeder kann doch schaffen, was er will.
Aber der, der etwas schafft, möchte auch, dass es gesehen wird, am besten, dass es hoch geschätzt wird und auch bezahlt. Wenn Richter dann auf diese Millionen nicht mehr so scharf ist, liegt das nicht daran, dass er nicht gesehen und geschätzt werden will, sondern dass er diesen immensen Betrag unangemessen findet. Dieser Geldbetrag hat ja auch nichts mehr mit seiner Kunst zu tun, sondern mit der Bestimmung seiner Kunst zum Statussymbol. Das ist wie mit dem hohen Wert mancher Briefmarken. Richter kommentierte diese Preisentwicklung so: „Das ist genauso absurd wie die Bankenkrise – unverständlich, albern, unangenehm.“
Das Erschaffen der Kultur delegieren wir. Und das können wir auch delegieren. In dieser Kultur zu leben können wir nicht delegieren. Wir können uns ihr fast nicht entziehen. Durch unsere Sozialisation sind wir da hineingewachsen.
Wir können uns ihr weitgehend entziehen unter großem Aufwand, aber nicht ganz. Das will nämlich keiner. Ich und viele andere imitieren und kaufen und leben so diese Kultur.
Die meisten Menschen (vermutlich alle) die etwas schaffen (auch die, die nichts schaffen), möchten, dass sie gesehen werden und dass sie Geld bekommen.
An diese Lieblosigkeit glaube ich nicht. Wer etwas kreativ erschafft ist meist mit viel Engagement dabei (um nicht zu sagen Leidenschaft und Herzblut). Manchmal sind diese Leute natürlich überfordert und lustlos und leben von vergangenem Engagement. Ein Werbefachmann sagte mal zu mir mit großer Begeisterung, dass ein bestimmtes Wort – mir fällt gerade nicht ein welches – der Werbebranche zu verdanken sei und das sei doch toll.
Die Erziehung ist sehr wichtig für die Weitergabe der Kultur.
Ganz bestimmt.
Und am Feuer ist es warm, angenehm, gemütlich.
Ich bin der Meinung, dass wir uns nicht wirklich entscheiden, sondern einfach das tun was wir gewohnt sind, wo wir hineingewachsen sind. Und wenn sich einer entscheidet, zum Beispiel sich im Hambacher Forst sechs Meter tief in die Erde zu vergraben und dann fast nicht retten zu lassen, um auf Missstände aufmerksam zu machen, dann bewirkt er damit auch nicht viel. Verhält sich so wie seine Gruppe nur extremer. Allerdings habe diese Leute ja schon etwas erreicht.
Es ist darin sehr viel Kunstfertigkeit. Meine Arbeitsdefinition von Kunst: Eine eigene Sprache sprechen und jemanden finden, der einem zuhört. Doch, es steckt auch Kunst darin, aber was da gesprochen wird lässt sich meist übersetzen mit: SIEH HER. Da geht noch mehr.
Nein, darf er nicht. Streng genommen darf man nicht mal Happy Birthday im Kindergarten singen. Bzw. man darf nur, wenn man es bezahlen kann. Und genau das wird tatsächlich gelegentlich eingeklagt. Und es lässt sich auch komplett verbieten, bestimmte Kunstwerke weiter zu entwickeln. Davon abgesehen wird fast jedes kulturelle Schaffen, das eine gewisse Aufmerksamkeit erregt, umgehend von kommerziellen Verwertungsinteressen vereinnahmt und dient dann primär dem Zweck der Profitmaximierung, ist also nicht mehr frei.
Nein, können wir nicht. Picasso kann keine Kultur von Picassos schaffen. Kultur bedeutet für die meisten Kulturbeflissenen, ins Museum, Theater, Galerien zu gehen. Das ist dann eine Kultur von Museumsgängern. Ich will das nicht werten. Es ist halt keine Kultur von Malern, denn das kann man nicht delegieren. Man kann vielleicht das Erschaffen von kulturellen Ikonen und Leitbildern deligieren, aber die Kultur selbst erschaffen wir alle zusammen. Und wenn wir uns dem zu entziehen versuchen schaffen wir automatisch eine Kultur von Eremiten.
Schalt mal 1 Live ein.
Die Reaktion der Öffentlichkeit auf Acta hat in eben dieser Sache schon viel bewirkt. Es gibt eine Mehrheit für Kulturfreiheit insbesondere bei den Jüngeren. Dies wird als Umsonst-Mentalität diffamiert. Die Urheberrechtslobby arbeitet mit Propaganda und Sprachmanipulationen wie „Raubkopie“. Diese Propaganda ist bisher eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte. Es ist ein weiter Weg, eine andere Vorstellung von Kultur zu etablieren. Ich versuche hier ein Argument für Kulturfreiheit darzulegen.
Aber wenn sich genug Menschen finden, die beschließen, gemeinsam nach anderen Regeln zu leben, dann kann das die Welt verändern. Das haben die Genossenschaften vor hundert Jahren bewiesen, und die hatten noch kein Netz.