Chips-Diät

Angefangen hat es vor Jahren mit Chilipulver. Etwas davon auf ein Brot mit dem richtigen Ketchup – die Schärfe wirkt kurz wie ein Geschmacksverstärker bevor sie den Geschmack weitgehend ausknipst. Vielleicht ist das sogar ein und dasselbe: das Capsaicin des Chilis stimuliert den ganzen Mund – auch die Geschmacksnerven – dermaßen, dass aufgrund sensorischer Ermüdung kurz nach dem Flash der Geschmackssinn durchbrennt. Und es ist auch so schön, wenn der Schmerz nachlässt.

Angefangen hat es also mit Chilipulver. Das war jetzt sehr laienhaft geschrieben, “Chilipulver”. Es handelte sich um gemahlenen Cayenne-Pfeffer. Das ist so die Einstiegsdroge in die Chilitis.

Jetzt wirds mal kurz wissenschaftlich. Schärfe misst man in “Scoville”. Ohne jetzt auf die vielleicht etwas langweilige Geschichte der Scoville-Skala einzugehen sei gesagt, dass hier letztlich der Gehalt an dem im Chili enthaltenen Molekül “Capsaicin” gemessen wird.

Cayenne-Pfeffer hat rund 10 mal so viele Scoville wie Tabasco-Soße: 30.000 bis 50.000 Scoville. Mittlerweile bin ich bei Habanero-Pfeffer angelangt. Der hat so 100.000 bis 350.000 Scoville. Den Pfeffer habe ich im Internet bestellt. In normalen Läden gibts das nicht.

Das geht gut zu Pringles, weil die so gleichförmig sind: eine Priese davon auf jeden einzelnen Chip – man breitet sie dazu am besten auf einem Teller aus – und man isst keine ganze Packung mehr am Stück, bekommt aber ein vielfaches des Geschmackserlebnisses.

Geeignet ist eine Pringles-Sorte, die man mag, bei mir Sweet Paprika. In Kombination mit weiteren Zutaten eignet sich auch Pringles Original sehr gut. Die sind leicht gesalzen (weniger als die meisten anderen salzigen Chips) und ziemlich neutral. Wenn es bei Chilipulver bleibt, kann man beliebige Chips nehmen: etwas Chilipulver in die Tüte und gut schütteln, fertig. Aber wenn man weiter verfeinert, ist es angenehm, einen gleichförmigen Chip wie Pringles zu haben.

Ich habe z.B. festgestellt, dass geschroteter Habanero Chili aromatischer ist als gemahlener. Chilis sind leckere, tropisch Früchte mit einer fruchtigen Süße hinter der Schärfe und dieses Aroma kommt dann noch besser zur Geltung. Geschrotete Chili kennt man u.a. vom Türken. Da wird man oft gefragt, ob der Döner scharf gemacht werden soll. Antwortet man “ja”, wird etwas Rotes, Grobkörniges auf den Döner gestreut. Das ist Chili, allerdings kein Habanero sondern wahrscheinlich Cayenne. Die groben, getrockneten Chili-Flocken haften nicht so an Chips wie Pulver. Darum muss man auf jeden Chip einzeln ein wenig streuen.

Ich habe auch mit verschiedenen Soßen experimentiert, mit und ohne zusätzliches Chili. Klar, Ketchup auf jeden Chip ist naheliegend. Verschiedene Grillsoßen bieten sich an. Mein persönlicher Favorit ist die klassische “Sweet Chilisauce for Chicken”. Die enthält aber Knoblauch, muss man vorsichtig dosieren. Dann kann auch ein kleines Stück Putenbrust zwischen den Chip und die Soße.

Wir hatten auch mal Mango-Chutney vom Grillen übrig. Das war nicht übel, aber auch nicht richtig gut. Ich wusste, dass es Mango-Chutney gibt, dass ich sehr gerne esse. Also habe ich mal im Netz recherchiert, welches Mango-Chutney denn gemeinhin für lecker gehalten wird: Geeta’s. Ich habs dann mal bestellt. Super.

Das erste hatte ich bei Amazon bestellt. Als es alle war, habe ich mal nach einem Laden gesucht, der das vertreibt, um Versandkosten zu sparen. Denn bei Amazon Marketplace muss man den Versand für jeden einzelnen Artikel zahlen, auch wenn man mehrere Artikel vom gleichen Anbieter kauft. Und die Versandkosten dort waren auch noch relativ hoch. Der Laden, den ich gefunden habe, hatte auch andere Sorten Geeta’s im Angebot. Also habe ich die auch mal bestellt. Mango-Chili Chutney ist nicht übel, aber von der Schärfe relativ mild.

Geeta’s Lime and Chili Chutney ist der Hammer. Chutney ist so ungefähr die indische Variante von Marmelade. Man kocht Früchte mit Zucker ein um sie haltbar zu machen. Bei der indischen Variante kommen dann noch Gewürze dazu. Und Geeta’s Chutneys sind genial gewürzt, wenn man denn indische Küche mag. Geeta’s Lime and Chili Chutney ist eingekochte Limette und Chilischote mit ordentlich Zucker und Gewürzen. In Geeta’s Chutney werden die Früchte klein geschnitten, nicht püriert. Man merkt also deutlich die Fruchtstücke.

Limetten-Chili-Chutney ist eine Geschmacksbombe. Starke Zitronen-Säure entschärft durch den Zucker aber verstärkt durch die Chili-Schärfe zusammen mit intensivem Limetten-Aroma und exotischen Gewürzen (die auch mit eingekocht also nicht getrocknet und/oder gemahlen sind). Boom.

Das ist der Stand, jetzt. Das geht sicher noch weiter. Eine Frucht würde glaube ich gut passen: Unten der Chip, darauf ein kleines Eckchen Putenbrust, dann vielleicht eine dünne Scheibe von einem Apfel (?) und oben drauf das Chutney mit evtl. etwas Chili. Zum Beispiel.

Ich kann diese Diät jedem empfehlen. Ich esse jetzt deutlich weniger Chips als früher. Und die fortdauernde Suche nach dem perfekten Chips-Rezept hat etwas seltsam Zen-haftes. Ok, vergesst mal die diversen Perversionen in dem “Rezept”. Was ist denn Eure Droge? Schokolade vielleicht? Da ist haufenweise Platz für Zen. Gummibärchen sieht schon schlechter aus. Und falls es Tabak ist, tut Eurer Umwelt einen Gefallen und kommt nicht auf die Idee, dass Zigarren das Zen des Rauchens sind.

Mit Schokolade habe ich immerhin kleine Eindrücke. Ich nasche vermutlich mehr als man mir ansieht. Und was man mir ganz sicher nicht ansieht ist irgendeine Andeutung von Dürrheit oder Magerkeit. In der Weihnachtszeit hatten wir ab Nikolaus eine immer gut bestückte Etagere mit Weihnachts-Süßkram. Und das sind alles leckere Sachen. Marzipan-Kartoffeln, Mandeln im Schoko-Mantel, mit Marzipan, Karamel oder Knister-Brause gefüllte Schoko-Kugeln, fast alles einzeln verpackt.  Ja, ein Müll, der Wahnsinn. Aber darum gehts gerade mal nicht.

Ich habe festgestellt, dass ich nicht mehr nasche als sonst. Und nicht, weils nicht geht, im Gegenteil. Die Psychologie meines Naschens scheint wenig mit der Menge zu tun zu haben. Es geht mehr so um die Handgriffe und die sensorischen Stimulationen. Eine Schoko-Kugel ist einfach viel weniger als ein Riegel von der dicken Milka-Extra.

Das ist natürlich noch weit weg von Zen. Aber es hat die Richtung eingeschlagen und ist ein kleines Stück des Weges gegangen:

Zen und die Kunst des Naschens.

Cocktail Molotov

Whisky ist eine einzigartige Droge. Ja, das Aroma eines Single Malts kann sehr Komplex sein. Aber es ist eine Komplexität, eingelegt in Stoff. All die kleinen Erinnerungen an den Sherry, der vor dem Single Malt in diesem Eichenfass lag – es sind Erinnerung in mindestens 40% reinem Alkohol.

Whisky ist der Schnupftabak der Alkoholiker. Der einzige Stoff, bei dem man gesellschaftlich toleriert schon wenigstens ein ganz klein bisschen besoffen wird, wenn man eine Nase nimmt.

Und wenn man dann einen ordentlichen Schluck nimmt, dann beißt er sich ganz einzigartig von den Lippen durch den Rachen in den Magen. Denn der teure Single Malt muss ja angemessen goutiert werden. Und der rund die Hälfte ausmachende Teil des reinen Alkohols, der diesen teuren Tropfen lagerfähig macht, spült spürbar brennend mit durch die umständliche Degustation.

Kalte Pizza

Die kulinarische Errungenschaft der Pizza ist es, nicht so zu schmecken, wie sie aussieht. Nun ja, tatsächlich tut sie das – allerdings erst, wenn sie kalt ist. Dann schmeckt sie wie kaltes gekochtes Fleisch und Gemüse verklebt mit einem mittelmäßigen fetten Käse auf einem mehr oder weniger zähen Weizenfladen.

Der Fladen ist der Ort, wo das Kunststück beginnt. Er darf nicht zäh, er muss knusprig sein. Es gibt nichts, was unser Gehirn so vom Geschmack ablenkt, wie das perfekte Knuspern. Knusprig kann man sogar Bacon vertragen. Haben Sie mal ein kaltes, lediglich geräuchertes Stück Bacon probiert? Und selbst die Erinnerung des wieder erkalteten erschlafften Bacons an seine ehemalige Knusprigkeit genügt, ihn immerhin genießbar zu machen.

Und weil das so ist, muss der Pizza-Käse ebenso knusprig und heiß sein. Das färbt dann auch hinreichend auf das etwaig vorhandene Gemüse und die bestenfalls drittklassige Salami ab, das ganze bei perfekter Zubereitung zu einem echten Genuss zu machen.

Schokoherz

Hallo. Mein Name ist Thorsten und ich bin Schokoholiker.

Neulich ist mir etwas Verblüffendes aufgefallen. Ich esse meist nicht ein Stück Schokolade, sondern mehrere, ein zwei Riegel. Wenn der Gaumen so beschäftigt ist, verlernt er das zuhören. Und darum habe ich Pralinen nie begriffen, nie gemocht. Denn eine Praline kann nur für sich alleine stehen.

Eine Praline besteht meist aus einer ganzen Reihe von Komponenten, die zusammen eine Komposition bilden. Selbst einfache Pralinen haben meist einen Überzug, z.B. aus Schokolade, eine Füllung und noch ein Herz aus einer dritten Zutat. Dazu gibt es obendrauf oft noch eine Nuss oder andere optische und gustatorisch-olfaktorische Dekoration.

Und diese Komposition braucht Raum und Zeit, muss vom ersten intensiven Kontakt mit der Zunge bis zum letzten Schmelzen der Ahnung des Nachgeschmacks erlebt werden. Man kann keine Symphonie erleben, wenn nebenbei noch eine Oper läuft, kann nicht zwei Gemälde gleichzeitig wirken lassen.

Eine Praline ist eine Nachricht des Chocolatiers an ihren Esser und nicht leicht zu verstehen.

Techno House

Dies ist eine sehr kurze Epoche in den Ausgrabungen, die zukünftige Archäologen hoffentlich mal in unserem heutigen Leben machen werden.

Die Natur ist hier sehr gezähmt. Eine öffentliche Grünfläche geht in Garten über. Immerhin, es ist ein Biogarten. Und selbst auf diesem kleinen Fleckchen Erde umgeben von der relativen Ödnis der flächendeckenden Monokultur weniger strapazierfähiger Gras-Sorten, selbst auf diesem Fleckchen Erde greift sich Mutter Natur all den wenigen Raum, der ihr Geboten wird.

Doch im Moment schläft sie, die Natur. Es ist Ende Dezember. Ein kalter, leicht regen-durchsetzter kräftiger Wind pfeift durch die kahlen Büsche am Rand des Gartens. Durch das Pfeifen des Windes hört man leise ein regelmäßiges Piepen. Es ist das Summen des Hauses, das seine Bewohner umsorgt.

In diesem Fall ist es der Trockner. Man hört ihn draußen durch das offene Keller-Fenster. Im Wasch-Keller steht oft das Fenster offen, damit der Dunst abziehen kann.

Und nun piept der Trockner. Er ist fertig mit dem Trocknen. Heute wurden nach dem Baden die Handtücher gewaschen. Zusammen mit etwas Bunt-Wäsche, die gerade noch anlag, war eine Maschine voll geworden. Und die ist nun gewaschen und getrocknet. Ja, es ist spät. Oder auch frühe Nacht.

Die beiden, die Waschmaschine und der Trockner, sind nicht die einzigen Maschinen, die sich hier um das Wohl der Bewohner kümmern. Ein absolut gleichmäßiges Summen kommt aus dem Heizungskeller. Das hört man aber nur unten im Keller. Und draußen im kalten Wind. Es ist die Lüftungsanlage, die dauernd die Luft im Haus durch frische ersetzt. Durch einen in den Lüftungsweg eingebauten Wärmetauscher bleibt dabei 90% der Wärme im Haus. Es durchströmt dauernd frische angenehm temperierte Luft sanft das Haus.

Für den Ausgleich der verbleibenden 10% Wärme sowie den Wärmeverlust durch Wände und Fenster arbeitet der Kollege neben dem Motor der Lüftungsanlage sporadisch mit einem etwas sonoreren Summen. Das kommt von der Wärmepumpe. Die pumpt Wärme aus dem Inneren der Erde ins Haus. Dabei sind wieder eine ganze Reihe an Wärmetauschern am Werk: aus dem Erdreich in die Sole der Wärmepumpe. An sonnigen Dezembertagen kann selbst vom Dach noch Wärme geerntet werden. Doch nun, in der Nacht, und während solcher Schlecht-Wetter-Perioden gleich gar, kommt die Wärme aus der Erde.

Aus der Sole geht die Wärme in den großen Wasser-Tank, der als Wärmepuffer dient. Aus diesem stets gut gefüllten Wärme-Reservoir wird die Wärme im Haus verteilt, wohin sie gerade gebraucht wird: als Warm-Wasser aus einem der zahlreichen Wasser-Hähne des Hauses. Oder in die Wand-Heizung.

Die Wandheizung umgibt die Außen-Wände des Hauses und wenige Innenwände mit einem feinen Netz aus Wärme. Es ist gerade soviel, dass die Außenwände 120% isoliert zu sein scheinen – die Wände haben nicht einen leichten Wärmeverlust, sie haben einen leichten Wärme-Eintrag, als wären sie von einer prallen Juli-Sonne beschienen, in dieser Dezember-Nacht.

Im selben Raum, in dem die Lüftung und die Heizung arbeiten, arbeitet auch die Haus-Automation, aber die hört man nicht. Nur manchmal klackt es ganz leise, wenn ein Licht schaltet – weil ein Bewohner es an- oder aus-haben möchte, oder weil der Raum seit einiger Zeit verlassen ist, und das Licht deshalb jetzt mal abgeschaltet wird. Die Verteilung der Wärme wird ganz lautlos geregelt und nur wenn mal ein Fenster gegen allzu viel Sonne verschattet wird, hört man oben das Summen eines Motors. Doch davon kann zu dieser Zeit keine Rede sein.

Verlässt man den Keller, trifft man noch ein paar Helferlein der Bewohner. Der Staubsauger steht wie üblich im Weg. Er ist der dümmste all der Helferlein. Selbst der Herd kann wie der Ofen und die Micro-Welle nach einiger Zeit abschalten, wenn gewünscht. Die Spülmaschine durchläuft vielstufige Programme um das Geschirr der Bewohner zu säubern und zu trocknen. Der Kühlschrank regelt dauernd die Temperaturen in seinem Inneren. Und im Wohnzimmer versucht ein Smart-TV die Bewohner auf Wunsch zu unterhalten.

Doch auch das heißt natürlich nur so – smart. Tatsächlich ist es ziemlich doof. Es hat bestenfalls die Intelligenz einer Wanze, die für die Konzerne die Bewohner aushorcht, während diese unterhalten werden.

Es ist eine einzigartige und kurze Epoche. Und wir sind somit historische Freaks, Teil der wenigen Generationen, die über einen ansehnlichen Maschinen-Park gebieten – hinzu kommen noch Transportmittel, Kommunikatoren, ein paar Gadgets – einen Maschinen-Park, der aber komplett dumm ist.

Entweder sind wir die letzten Generationen, die für einige Zeit überhaupt über einen Maschinen-Park gebietet, oder wir sind die letzten, deren Maschinen-Park dumm ist.

Jahres-End-Rallye

Liebe Leser

Über das Jahr hat sich in mein Egotrip-Geschreibsel-Ornder ein bisschen was angesammelt. Einerseits bin ich oft zu faul zum veröffentlichen, andererseits spare ich auch gerne etwas für Zeiten, in denen ich gar keine Lust zum Schreiben habe. Aber jetzt ist der Egotrip viel besser gefüllt als die Utopolitik.

Darum werde ich in den kommenden Tagen einige Egotrip-Texte veröffentlichen und den Überhang wenigstens ein bisschen abbauen. Wer keine Lust auf meine Schreibübungen hat und nur wegen der Utopilotik hier rein-schaut, möge Nachsicht mit mir üben und dieses Blog in den kommenden Tagen ignorieren.

Los geht es mit dem Techno-House, das meine Lieben und mich behütet und dann kommen einige kurze Texte über Essen und Trinken. Mal schauen, ob ich danach noch Lust zum Veröffentlichen habe.

Ich wünsche Euch allen schöne, erholsame und ein bisschen besinnliche Tage mit Menschen, die Euch lieb sind.

        Thorsten

Wetten Dass wir uns besser kennen?

Dass “Wetten Dass ..?” abgesetzt wurde, ist eine Revolution. Oder besser: es ist Teil und sichtbarstes Symbol einer Revolution. Gleichzeitig war “Wetten Dass ..?” mit seiner Erstausstrahlung ihr Beginn sowie mit dem Absetzen ein wichtiger Meilenstein derselben.

TV Historie

Als “Wetten Dass ..?” vor 34 Jahren herauskam, war es schon eine TV-Revolution. Es war die Show von uns Normalos. Und mit Thomas Gottschalk sprach diese Show dann auch seit 27 Jahren in der Sprache der Normalos zu uns – in unserer Sprache. Beides gab es vorher nicht. Normalos kamen im Fernsehen nicht vor – außer als Opfer irgendwelcher Katastrophen oder als Kasper in einer altbackenen Spielshow. Und die Sprache, selbst in den großen Spielshows von Kuhlenkampf, Rosenthal und Heck, war nicht die Sprache des Volkes.

“Wetten Dass ..?” machte Normalos zu Stars. Sie spielten nun nicht mehr eine vorgesehen Rolle als Opfer oder Teilnehmer eines Spiels, dessen Regeln sie nicht bestimmen konnten, sonder sie spielten ihr eigenes Spiel nach ihren eigenen Regeln. Die Sendung gab uns einen kleinen Einblick in das Leben von anderen Normalos und ihre teils absurden Hobbies. “Wetten Dass..?” war damit der Anfang von dem, was heute 90% des Programm-Inhaltes der Privaten Sender (die es damals noch nicht gab!) ausmacht. Und was sich zuletzt bei Gottschalk sehr bemüht locker anfühlte, war 1987 eine Sensation. Gottschalk hatte schon mit anderen Sendungen für ein jüngeres Publikum Erfolge gehabt: weil er eine natürliche kodderige Sprache ins Fernsehen brachte. Als erster.

Und beides zusammen machte “Wetten Dass ..?” zu einem 34 Jahre währenden Mega-Erfolg, der bis zuletzt der Quotensieger seines Sendetermins war. Die größte und erfolgreichste Show Europas über drei Dekaden. Weil wir uns kennen lernen wollten, Liebe Mitbürger. Es war auch der Beginn des einen Megatrends der letzten Dekaden des seriellen TVs. Der Blick in unsere Wohnzimmer.

Das Ende vom Anfang einer neuen Epoche

Und jetzt wird “Wetten Dass ..?” abgesetzt, was zeigt, dass die Revolution in vollem Gange ist. Denn so langsam kennen wir unsere Wohnzimmer. Die Privaten Fernsehsender hatten uns da schon weit gebracht. Aber da sie fast ausschließlich auf Voyeurismus zielten, war ihr Blick letztlich doch verstellt. Doch mit YouTube haben wir auch dieses Problem gelöst. Wir sehen uns gegenseitig beim Leben zu. Klar, wir bekommen nur die kleinen Ausschnitte mit, die es zu kleiner Berühmtheit schaffen, Warhol’s 15 Minutes of Fame. Nur, dass es meist eher so 1 bis 3 Minuten sind und manchmal auch nur 15 Sekunden. Aber es genügt. Wir kennen unsere Wohnzimmer, wir kennen uns ein wenig. Das macht “Wetten Dass ..?” irrelevant und uns zu Revolutionären.

Erlauben Sie? Roggendorf

Denn sehen Sie: wir kennen uns. Darf ich mich vorstellen? Ich bin übrigens Thorsten Roggendorf. Wir sehen uns auf Youtube, wir lesen uns in den Kommentarspalten. Wir chatten und flirten, debattieren und streiten, Grüßen und flamen uns im Internet und teilen Bilder unserer Katzen. Wir brauchen keine Gatekeeper mehr, denn wir haben jetzt Katzenbilder. Und das ist keineswegs so trivial und lächerlich wie es oft gemacht wird.

Gatekeeper waren dass zentrale Element der Welt, aus der wir kommen. Wir kannten uns nicht gegenseitig, konnten uns nicht kontrollieren und wussten nicht, ob die anderen uns nicht ausnutzten oder ob wir auf ihre Kooperation vertrauen können. Um das Problem zu lösen, wurden die Gatekeeper eingeführt. Die Bürokratie, der abstrakte Gesetzgebungsprozess, die mächtige und seriöse Exekutive – wir brauchten all das, um dafür zu sorgen, dass wir einigermaßen fair zusammenleben können.

Der Mensch ist das sozialste Tier

Doch nun kennen wir uns oder können uns zumindest kennen. Und das brauchen wir nun mal. Sie können es als primitiven Voyeurismus sehen oder als liebevollen Blick auf unsere Nächsten, als seelisches, audio-visuelles Lausen. Wir Menschen stammen von Tieren ab. Wir sind soziale Tiere, die in Gruppen leben von der Größe der Kleinfamilie bis zu wenigen hundert. In Gruppen, wo wir es noch mental auf die Reihe kriegen, jeden irgendwie zu kennen, einordnen zu können. Millionen Jahre haben wir ganz überwiegend so gelebt. Seit höchstens wenigen hundert, probieren wir es nun auch anders.

Aber wir bleiben Menschen, wir müssen unser Rudel kennen. Das ist vielleicht auch ein wichtiger Grund für unsere Intelligenz. Unsere soziale Intelligenz ist beeindruckend. Wir bauen extrem komplexe Modelle vom Verhalten unserer Mitmenschen auf. Wenn wir jemanden gut kennen, erkennen wir schon an winzigen Details, wenn etwas nicht stimmt. Und wir können in ziemlich großen Gruppen leben. Vielleicht ist das der evolutionäre Schlüssel unseres Erfolges als Spezies. Wir können größere Gruppen bilden als alle andere soziale Tiere (wenn man mal die strunzen-dummen Herden außen vor lässt, die kaum kooperieren). Und der Rest ist ein Neben-Effekt unserer hohen sozialen Intelligenz.

Bleibt alles anders

Doch wir machen momentan recht wenig aus dieser hohen sozialen Intelligenz. Weil wir uns in unseren zu schnell zu groß werdenden Gruppen aus den Augen verloren haben. Doch nun können wir uns wieder sehen. Und brauchen darum die Gatekeeper nicht mehr.

Gatekeeper sind die “Torwächter”. Sie halten alle Schlüssel in der Hand für die Gewährung und den Entzug der gesellschaftlichen Teilhabe und damit die Schlüssel zu einem zentralen Teil unserer Menschlichkeit. Gatekeeper haben wir in der Wirtschaft wie im Staat. Wir mussten diese immense Macht in die Hände einzelner legen, um ihren allzu krassen Missbrauch zu unterbinden. Denn ohne soziale Kontrolle – und die verloren wir in unseren zu groß gewordenen Gruppen – war dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet und er fand auch nur zu umfangreich statt.

Nun wiederum können wir uns wieder kennen und wir können andere Lösungen für unser Zusammenleben finden. Das Internet und die Informationstechnik erlauben es uns, die Gruppen, in denen wir menschlich zusammenleben können, noch einmal drastisch zu vergrößern. Durch das knüpfen von individuellen Netzwerken innerhalb der Mega-Gruppe der globalen Gesellschaft können wir unsere nun vergrößerte Horde, unseren Stamm wiederherstellen, ohne ihn wie früher zu einer geschlossenen, isolierten Einheit zu machen. Wir können und müssen das Konzept der Ehre wieder herstellen und ihr diesmal mitgeben, was ihr früher fehlte und wessen Fehlen sie zu einer Geißel der Gesellschaft machte: die Toleranz.

Wetten dass wir das hin-bekommen? Versagen wir, verlieren wir alle nicht nur diese Wette, gewinnen wir, gewinnen alle.

Das I in CIA steht für Igitt

Die CIA, das sind wir alle. Das sind unsere Folterknechte, die haben unsere vollste Unterstützung und wir werden bestimmt nicht insistieren, dass da auch nur einer angeklagt wird.

Schon eklig die CIA. Fragen Sie zum Beispiel mal Abu Zubaydah. Gut, den können Sie jetzt schlecht fragen, denn der sitzt nach wie vor ohne Anklage oder gar ordentliche Gerichtsverhandlung in Guantanamo. Aber Die Amis haben ja jetzt selbst veröffentlicht, wie sie Abu Zubaydah als ersten ihren “verbesserten Befragungstechniken” unterzogen haben: Schlafentzug, körperliche Misshandlung, sexuelle Erniedrigung, regelmäßiges Waterboarding und insgesamt 10 Tage und Nächte in einem Sarg einsperren. Also wenn man die Seele von jemandem gezielt zerstören will, klingt das wie eine ziemlich clevere Strategie – interessante Herangehensweise für eine zutiefst christliche Nation. Gut, man könnte jetzt meinen, zünftige Folterprogramme sind halt was man bekommt, wenn man, wie die Amis mit dem Bush, eine fundamental-christliche Regierung wählt. Aber da machen wir es uns etwas einfach.

Wir sind die CIA

Leider sind die CIA auch wir. Ja, echt. “Die spinnen, die Amis” zählt nicht. Die spinnen ja schon immer. Trotzdem stecken wir so tief im Enddarm der Amis, dass wir anatomisch schwer von ihnen zu unterscheiden sind. Und wenn die Amis vor 70 Jahren 6 Millionen Juden und rund 60 Millionen andere Menschen ermordet hätten, wären die Amis jetzt vielleicht auch etwas ruhiger.

Fakt ist, wir sind nicht nur das Volk, wir sind auch die CIA. Das ist unser System. So sieht es in der ganzen westlichen Welt aus. Wir Deutschen haben uns da in den letzten 70 Jahren etwas zurückgehalten, aber auch wir werden von Dekade zu Dekade wieder sichtbar bellizistischer. Und die Geschichte kennt einige wundervoll gruselige Geschichten. Bleiben wir doch mal bei unseren aller-engsten Verbündeten und ihrer CIA. Das Folterprogramm war nämlich nicht wirklich ein Ausrutscher. Das fügt sich nahtlos in eine lange Reihe ähnlich gruseliger Geschichten.

Contra Affäre

In den 80ern gab es eine echte Hammer-Story, die Contra-Affäre. Die Amis haben total geheim Waffen an den Iran verkauft. Das allein ist schon so krass unmoralisch, da könnte man sich Stunden drüber gruseln. Die haben nämlich nicht nur dem Iran Waffen für den Krieg gegen den Irak verkauft, nein sie haben auch den Irakern beim in mehrfacher Weise völkerrechtswidrigen Chemie-Waffen Angriff auf den Iran geholfen. Das war natürlich bevor die Amis selbst die Iraker zurück ins Mittelalter gebombt haben. Natürlich wieder völkerrechtswidrig und gerechtfertigt mit einem riesigen Sack voller Lügen. Na, wer ist der Babo?

Aber das ist wie gesagt nur eine Nebenhandlung. Die Amis verkauften also Waffen an den Iran. Mit der Kohle aus diesen geheimen Waffendeals haben die Amis die Contras unterstützt. Denn nichts machen Amis lieber, als ein sozialistisches Regime durch ein faschistisches zu ersetzen. Dahinter steckt wieder Stoff für wochenlanges Gruseln. Also die Contras das war so eine faschistische Mörderbande, wie sie die Amis gerne unterstützen. Also wie zum Beispiel die Taliban und Osama Bin Laden, die die Amis ja lange militärisch in Afghanistan unterstützt haben – wie viele vormalige “Freiheitskämpfer”, die die Amis heute als “Terroristen” bekämpfen. Wieder eine andere Geschichte …

Ihre eigene Regierung hatte den Amis verboten, sich da bei den Contras einzumischen. Aber die eigene Regierung konnte einen Ami noch nie von irgendwas abhalten. Darum sind die Amis ja die Amis. Die sind aus Europa geflüchtet um der Regierung zu entkommen, darauf fußt ihr Staat, das Land der Freien, und das hat heute noch sehr großen Einfluss in den USA.

Die Amis haben also die Contras mit Kohle aus den Waffenverkäufen im Iran unterstützt. Aber die Contras haben ja Krieg geführt gegen irgendwelche Sozialisten, und für einen Krieg kann man nicht zu viel Kohle habe. Also haben die Contras so viel Koks wie möglich vertickt um mehr Kohle für ihren Krieg zu kriegen. Und an wen vertickt man möglichst viel Kokain am besten? Klar, an Amis.

Und die CIA wusste von diesen Drogenverkäufen – Drogenverkäufen an die eigenen Leute. Also ich halte diesen ganzen Drogen-Prohibitions-Scheiß ja für Schwachsinn, aber die Amis waren da damals streng gläubig. Tiefer als als Drogenhändler konnte man demnach nicht sinken (außer vielleicht als Kinderficker, wenn die Regierung mal wieder ein paar hübsche Abhörprogramme gegen die eigene Bevölkerung durchsetzen will … wieder andere Geschichten). Und die CIA hats gewusst. Und geduldet. Denn wenn so ein feiner Fascho-Mob ein paar Sozialisten verprügelt, muss man schon mal Prioritäten setzen.

Von kleinen und großen Arschlöchern

Jo, das war die Contra-Affäre. Das waren auch schon wir. Denn das ist unser System, das sind unsere aller-engsten Verbündeten. Alle mit diesem System machen das so, wir haben uns nur mal eine kleine Auszeit genommen, nachdem wir etwas über die Stränge geschlagen haben. Bei uns läuft auch ne Menge Scheiße, nur halt ein paar Nummern kleiner, weil wir auch ein paar Nummern kleiner sind und wie gesagt, vor 70 Jahren …

Aber hey, wir sind trotzdem besser als die anderen! Hat mir gerade ein Radio-Kommentator erklärt. Der hat nicht etwa uns/und oder die Amis gegeißelt, nein, der hat mir erklärt, was bei uns, respektive den Amis, besser läuft. Denn so aufgeklärte Journalisten, die durchblicken das einfach besser als das blöde Volk, das gleich wieder in dumpfen, völlig unbegründeten Antiamerikanismus verfällt. So ein Journalist hat in der Regel auch viel präzisere Innenansichten aus dem Enddarm der Amis. Also besser ist jedenfalls bei uns, dass wir über so etwas reden. Da hat unsere Demokratie tolle Selbstheilungskräfte.

Also nicht dass es langfristig irgendwie besser wird – das zeigt jedenfalls die Geschichte. Aber stimmt schon, ich bin wirklich und ehrlich sehr froh, dass ich für so einen Artikel hier nicht an die Wand gestellt werde. Und ich wette, in der islamischen Welt wird uns das haufenweise Respekt bringen, wie wir drüber reden, wie wir deren Brüder foltern.

GelenktD Demokratie

Putin ist schlimm, das ist nicht neu. Neu ist, dass der Westen wild entschlossen scheint, einen Krieg mit ihm anzuzetteln.

Neulich Abends bei Freunden ging es mal wieder um Putin. Hach, schlimm der Putin. Das haben unsere Medien prima hin bekommen. Ganz schön ferngesteuert sind wir. Warum? Putin ist doch schlimm? Äh, ja. Und? Das hat keinen rechten Neuigkeitswert. Neu ist, dass wir ach so tolle Demokratie einen Krieg mit Putin anfangen wollen. Aber davon redet irgendwie kaum wer. Nur so linke Putinversteher. Ja, unsere Medien können schon was.

Waladimir, Wladimirowitsch Putin. Der hat seine steile Karriere bei einem der berüchtigsten Geheimdienste der Welt begonnen, beim KGB. Von da aus hat er dann den Kreml erobert und ist zum russischen Staatsoberhaupt geworden – Oberhaupt eines runter gewirtschafteten, taumelnden, mafiösen Riesenreiches, das er vom versoffenen Versager Jelzin übernommen hat.

Als Staatsoberhaupt hat er als erstes die Paten des Mafiareiches, die sogenannten Oligarchen, entmachtet – bekanntestes Beispiel ist der bei uns zum Freiheitskämpfer umgemünzte Yukos-Pate Chodorkowski. Sodann hat er einen äußerst blutigen Krieg in Tschetschenien geführt, den er geschickt mit dem westlichen Terror-Sprech gerechtfertigt hat. Die Ablenkung der Weltöffentlichkeit durch die China-Olympiade hat Putin genutzt, um mal eben Krieg in Georgien zu führen.

Heute sitzt Putin fest im Sattel eines weit weniger taumelnden Riesenreiches. Er hat bewiesen, dass er ein politisches Genie ist, das über Leichen geht – auch hunderttausende, wie er in Teschetschenien bewiesen hat. Ja, in der Tat, schlimm der Putin.

Unsere Demokratie ist leider nicht mehr so viel Wert, wie sie es mal war. Aber es gibt einen einfachen Test, der zeigt, dass wir noch viel Luft nach unten haben. Stellen sie sich mal vor, sie würden verschiedenen Staatsoberhäuptern nachts allein in einer dunklen sibirischen Gasse begegnen. Merkel? Kein Problem. Putin? Lieber nicht. Obama, der Mann, der jeden Dienstag die Mordaufträge für seine Dronengeschwader unterschreibt? Wahrscheinlich kein Problem, wenn Sie kein Moslem sind. Der versoffene Jelzin, wenn er denn noch unter uns weilen würde? Klingt riskant.

Ende der 80er Jahre, Anfang der 90er hat die westliche Führungselite in einem historischen Moment geistiger Umnachtung mal das Richtige getan. Sie hat sich mit Gorbatschow, dem Mann, der es an die Spitze von Stalins Partei geschafft hat, geeinigt. Sie haben versprochen, die NATO nicht näher an Russland zu rücken, versprochen ein einiges Europa mit Russland zu schaffen und haben den eisernen Vorhang nieder gerissen.

Ein alkohol-kranker Pseudodemokrat und ein diabolischer Oberpate später und wir ziehen den Vorhang wieder hoch. Die NATO hat sich gegen unser Versprechen durch die Mark des ehemaligen Ostblocks ganz nah an das Reich des russischen Psychokillers heran gefressen. Dem alten Kernland der russischen Seele, der Heimat des Volkes der Rus, der Ukraine wird eine EU-Assoziation angeboten, während Russland ausgegrenzt wird. Und unsere Medien spielen Verwunderung ob der Reaktion Putins, der Stammtisch spielt mit und die gut situierten Bildungsbürger ebenso. Schon schlimm der Putin.

Schüss Chef

Der Chef ist ein zivilisatorischer Atavismus. Seine gesellschaftliche Rolle ist so reformbedürftig, dass die Reform eher eine Abschaffung und Neuerfindung ist.

Die Chefs sind an allem Schuld. Immer. Sei es Politik, Wirtschaft, öffentlicher Dienst – geht es schief ist der Chef Schuld. Also der Chef an sich. Denn das Konzept “Chef” ist heute falsch. Ein Chef ist jemand, der anderen sagen darf, was sie zu tun und zu lassen haben. Und ein Chef ist folgerichtig für alles Tun und Lassen seiner Untergebenen verantwortlich.

Ich habe das in der Einleitung dieses Artikels schon erörtert und werde das im Detail hier nicht wiederholen: Der “Chef” ist ein zivilisatorischer Atavismus. Ich habe das in jenem Artikel in Bezug auf Hierarchien erörtert und die gesamte Arbeitsorganisation behandelt. Hier geht es nun speziell um die Rolle des Chefs. Diese Rolle ist grundsätzlich sinnvoll, oft sogar notwendig, doch ihre Ausgestaltung, ja schon ihre grundsätzliche Definition ist heute kaum mehr tragbar.

Der Chef ist unqualifiziert

Die moderne Arbeitswelt ist zunehmend durch die Kooperation hochgradiger Spezialisten gekennzeichnet. Kein Mitglied des Teams deckt alle Qualifikationen des gesamten Teams ab, schon gar nicht der Chef. Denn jener sollte idealer Weise ein Spezialist in seinem eigenen Fachgebiet, dem Führen von Mitarbeitern, sein. Dennoch ist der Chef für alle Aktivitäten seines Teams verantwortlich.

Um dem gerecht zu werden, müsste der Chef seinen Team-Mitgliedern fachlich überlegen sein, er müsste die beste Taktik und die beste Strategie haben (was nicht das Gleiche ist!), er müsste über die besten Kommunikationsfähigkeiten verfügen, die größte Empathie besitzen … der Mensch, der den Anforderungen an einen “Chef” gerecht wird, existiert in der modernen Arbeitswelt nicht.

Führer, vielleicht folgen wir

Der “Chef” ist durch seine Weisungsbefugnis definiert. Hier liegt der Systemfehler. Wir brauchen Menschen, die Entscheidungen für andere treffen. Das ist nicht nur sinnvoll sondern unerlässlich. Doch wir haben das falsche Leitbild. Wir sollten nicht an Generäle denken sondern an Führer. Bitte alle Assoziationen an den Führer ausblenden!

Ein Führer ist jemand, der den Weg kennt. Er zeigt dem Team fortwährend in welche Richtung das Ziel liegt, welche Abkürzung man nehmen sollte, wo verborgene Hindernisse oder Fallen liegen. Andere Team-Mitglieder lösen alle möglichen Probleme auf dem Weg. Niemand ist gezwungen, einem Führer in diesem Sinn zu folgen. Er überzeugt durch Kompetenz in seinem Fachgebiet.

Doch ein Führer steht nicht über der Gruppe, die er führt. Ein Bergführer ist in der Regel Angestellter, Untergebener seiner Gruppe. Es gibt keinen prinzipiellen Grund, wieso das in der Arbeitswelt anders sein sollte. Meist ist es ja richtig, wenn den Anweisungen des Chefs folge geleistet wird. Aber die Definition des “Chefs” – Weisungsbefugnis – untegräbt gerade die Kernkompetenz desselben: Führen.

Führen auf dem Drahtseil

Das Führen hoch qualifizierter Mitarbeiter ist ein delikater Balanceakt. Die hohe Qualifikation des Personals in der Informationsökonomie sorgt dafür, dass kaum ein Chef mehr eine wirklich signifikante Überlegenheit über seine Kollegen besitzt. Die Arbeitsabläufe erfordern eine hohe Motivation des Personals und diese wird durch unsensible den Vorstellungen des Personals zuwiderlaufende Anordnungen gestört. Diese Störung kann größere Schäden anrichten, als kleinere Fehler – zumal es meist viele Wege zum Ziel gibt.

Es gilt also, stets eine Balance zu finden, möglichst nur die Anordnungen zu geben, die das Team auf einem Weg zum Ziel halten und so weit möglich, das Team machen zu lassen. Wenn Korrekturen nötig sind, sollte dies nicht in Form von Befehlen geschehen. Der Führer sagt, welchen Weg er warum für den richtigen hält und wo er Probleme beim eingeschlagenen Weg sieht. Das Team kann das diskutieren und evtl. andere Lösungen vorschlagen. Ein Chef, der sein Handwerk versteht, muss praktisch nie Befehle erteilen.

Den Weg zeigen

Muss er es doch einmal, sagt er dem Team, ausdrücklich, dass er glaubt einen gewissen Weg einschlagen zu müssen. Das Team wird einem bewährten Führer folgen, auch ohne dass er unbedingte Macht über seine Gefolgschaft besitzt – auch dann, wenn der Führer, wie jeder Kollege, mal Fehler macht.

Darüber hinaus trifft ein Chef natürlich zahlreiche Entscheidungen in seiner täglichen Arbeit. Auch seine Kollegen tun dies ja dauernd. Oft benötigen seine Kollegen Entscheidungen, die nicht allein ihren Bereich betreffen und fragen den Chef, der dies dann für sie tut. Dies bedeutet aber nicht, dass der Chef über seinen Kollegen steht. Dieses Entscheidungen treffen lässt sich auch als Service für seine Kollegen begreifen.

Bis hierhin habe ich “lediglich” eine Umdefinition der Rolle des Chefs vorgenommen. Dies ist nötig doch erst der halbe Weg. Ich habe die für einen Chef erforderlichen Qualifikationen in der Einleitung kurz anklingen lassen: Fachkompetenz, Strategie, Taktik, Kommunikation, Empathie und vieles mehr. Kein Mensch kann all das, was ein Chef braucht, wirklich gut. Daher sollte die Rolle des Chefs nicht nur umdefiniert sondern auch verteilt werden.

Crowd-Cheffing

In Ansätzen geschieht dies heute schon. Es gibt Personalchefs, Produktmanager, technische Leiter und so weiter. Hier werden verteilte Führungsrollen nach Fachkompetenzen geschaffen. Doch ist es immer noch so, dass diese Partialführer jeweils ihr Team haben, dem gegenüber sie weisungsbefugt sind. Dies ist falsch und das nicht nur wegen der Weisungsbefugnis.

Es gibt Menschen, die visionäre Ideen haben, die eine Firma oder ein Team weit bringen können. Es gibt Menschen, die die analytischen Fähigkeiten besitzen, die nötig sind, um visionäre Ideen in Produkte zu verwandeln. Es gibt Menschen, die den ökonomischen Verstand besitzen, dies bezahlbar umzusetzen. Es gibt Menschen, die die Moderationsfähigkeiten besitzen, all diesen Aspekten und mehr den nötigen Raum zu verschaffen.

All diese Menschen – und mehr! – sollten als “Führer” betrachtet werden. Sie führen gemeinsam mit allen anderen das Team oder die Teams zum Erfolg. Warum hat man das nicht schon immer so gemacht? Weil es zu Kompetenzgerangel und hohen Reibungsverlusten führt.

Eine disfunktionale Kultur

Dies ist ein kulturelles Problem. Solange es die Rolle des Chefs gibt, gibt es Menschen, die diese Rolle anstreben, die keine Rücksicht auf den Erfolg des Teams nehmen, sondern ihren eigenen Vorteil über alles stellen. Diese Menschen, zerstören diesen Ansatz. Doch wenn es die Rolle des Chefs nicht mehr gibt, funktioniert diese egoistische Strategie nicht mehr. Wer führt tut dies allein aus dem Grund, dass die anderem ihm folgen, weil die anderem ihm vertrauen. So funktioniert menschliche Gesellschaft natürlicher Weise und genau so sollte sie in der Wirtschaft funktionieren.

In vielen Situationen funktioniert das aber heute nicht ad hoc. Eine komplexe vertrauensbasierte Arbeitsverteilung erfordert ein eingespieltes Team. Es ist schwer zu beurteilen, wer am besten welche Aufgaben übernehmen kann. Doch dieses Problem wird gelöst werden. Wir erleben heute die sich entwickelnde Vernetzung von Information. Wir werden die Vernetzung von Vertrauen erleben und dies wird völlig andere Arbeitsorganisationsformen erlauben. Ich habe mich damit z.B. hier und hier beschäftigt (hier ist eine Übersicht relevanter Artikel von mir).

Wer Menschen institutionelle Macht gibt, überfordert die meisten, tut den Machtbefugten wie ihren Untergebenen Unrecht. Chefs sollten die Diener ihrer Kollegen sein. Sie stehen nicht über ihnen sondern erfüllen – wie alle anderen auch – spezielle Aufgaben für das Team. Hierarchien – auch flache – sind nicht nötig sondern kontraproduktiv. Auf der untersten Organisationsstufe moderner Software-Entwicklung setzt sich hierarchielose Arbeitsorganisation zunehmend durch. Man benötigt, damit das funktioniert, spezielle Arbeitsprozesse.

Doch Hierarchielosigkeit sollte das Leitbild für die gesamte Arbeitswelt sein. Natürlich werden die meisten Chefs ihre komfortable, weitgehend unangreifbare Positionen nicht einfach aufgeben. Die Macht der Chefs wurde über Jahrtausende zu Ungunsten ihrer Untergebenen durchgesetzt. Doch letztlich wird sich das überlegene System durchsetzen.

Dieser Artikel (Englisch) verfolgt sehr ähnliche Ideen aus einer etwas anderen Perspektive.