Querdenken

Ich habe den Eindruck, dass die Querdenker-Bewegung grundlegend verkannt wird. Die Sicht derjenigen, die sich nicht gerade selbst zu den Querdenkern zählen, auf eben jene, scheint mir mit dem Wort “Covidioten” fast erschöpfend zusammengefasst. Die Querdenker werden als irgendwelche Deppen abgetan, die den Schuss nicht gehört haben. Ich glaube, das wird der Sache nicht gerecht und birgt die Gefahr, möglicherweise fatale “Fehl”-Entwicklungen in unserer Gesellschaft zu übersehen.

Man kann bei der Betrachtung der Querdenker-Bewegung sicher viele Gesichtspunkte beleuchten. Ich konzentriere mich hier auf die folgenden: Verschwörungstheorien, Lügenpresse, Ego(zentr)ismus & Menschenverachtung. Es treffen natürlich nicht alle diese Phänomene auf alle Querdenker zu.

Ich werde im Folgenden darlegen, dass diese vier Phänomene große Bedeutung in unserer Gesellschaft erlangt haben. Natürlich gibt es bei uns Gruppierungen aller möglichen Ausprägungen. Und da diese vier Phänomene bei uns eine so starke Ausprägung haben, ist die Querdenker-Bewegung angesichts Corona nicht überraschend sondern zwingend. Querdenken ist eine wenig schmeichelhafte Karikatur dessen, zu dem wir geworden sind.

Verschwörungen allüberall

QAnon ist hierzulande vielleicht nicht die zentrale Verschwörungstheorie der Querdenker, aber sie drängt sich als Einstieg schon auf, wenn ich Querdenken als Karikatur darstellen möchte. QAnon ist dermaßen überzogen, dass es sich selbst kaum noch karikieren lässt: diverse bekannte politische Führer planen die Errichtung einer Diktatur und handeln und essen Kinder. Als kleinster gemeinsamer Nenner der verschwörungsaffinen Querdenker kann wahrscheinlich gelten, dass unsere Demokratie abgeschafft und eine Diktatur an ihrer Stelle errichtet werden soll.

Zunächst ein kleiner Leitfaden für Verschwörungstheoretiker: Bei der Evaluation einer Verschwörungstheorie ist stets zunächst zu erwägen, wie viele Eingeweihte die Verschwörung haben müsste. Ab ein paar Dutzend wird es extrem unwahrscheinlich, wenn diese nicht aufwändig gescreent und unter Druck gesetzt werden, denn irgendwer redet immer. Eine Verschwörungstheorie, die ein paar Millionen Politiker, Ärzte und Krankenpfleger beinhaltet ist nicht mal lustig.

Aber dazu muss man sich schon etwas tiefer mit Verschwörungstheorien auseinander setzen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der dauernd große und kleine Verschwörungen aufgedeckt – und oft nicht streng verfolgt – werden.

  • Die westliche Welt wurde mit Lügen über Massenvernichtungswaffen und  durch die Babymörder-Lügen-Kampagne einer amerikanischen Werbeagentur in den Irakkrieg getrieben. Konsequenzen: im Wesentlichen keine.
  • Dort wurden durch amerikanische Streitkräfte Kriegsverbrechen in Serie begangen. Konsequenz: Die Whistleblower wurden lebenslänglich weggesperrt, Assange wird laut dem zuständigen UN-Berichterstatter fortgesetzt gefoltert.
  • Die ganze Welt wurde (und wird höchstwahrscheinlich noch) von den Five-Eyes (angelsächsische Staaten) konsequent abgehört und ausspioniert. Konsequenz: Der Whistleblower (Snowden) versteckt sich im russischen Exil um Verfolgung und Folter zu entgehen.
  • Etwas bodenständiger und näher: uns wurden über viele Jahre Autos mit getürkten Abgaswerten verkauft. Konsequenz: in Deutschland, wo der Skandal herkommt, im Wesentlichen keine.

Das sind nur die größten belegten Verschwörungen, die mir gerade einfallen. Es gibt noch viel mehr “kleinere” belegte und noch viel mehr plausible unbelegte. Dass Ex-Kanzler Schröder als Abfindung Millionen an dem Pipelinebau verdient, den er kurz vor Amtsende genehmigte, ist so eine unbelegte Verschwörung.

Und unsere Regierung steht offensichtlich auf der Seite der Verbrecher. Snowden bekommt hier selbstverständlich kein Asyl. Und zu Assange’s Verfolgung und Folter innerhalb der EU (England war ja bis 1. 2020 in der EU, der andere beteiligte Staat, Schweden, ist es noch) wird eisern geschwiegen. Und die Diesel-Mafia bekommt relative Winz-Strafen – wenn überhaupt.

Angesichts dessen ist eine (weitere) große Verschwörung gegen die Bevölkerung der westlichen Welt nicht so fürchterlich abwegig. Lediglich die konkrete Gestaltung der Verschwörungstheorie ist es. Abschaffung der Demokratie – echt jetzt? In welchem Jahrtausend lebt ihr?

Dafür müsste man ja erst mal eine Demokratie haben. Für die USA hat eine empirische Untersuchung von Volksmeinung und entsprechenden Gesetzgebungen gezeigt, dass dort keinesfalls das Volk regiert. Eine ähnliche Studie für Deutschland kam zu einem ähnlichen Ergebnis, doch wurde die Studie (im Auftrag der Bundesregierung!) medial so gründlich totgeschwiegen, dass ich sie jetzt nur noch schwer finden kann. Das ist vielleicht die Original-Studie, dies hier ist der mainstreamigste Kommentar, den ich dazu gefunden habe.

Wenn man in einer Demokratiesimulation lebt, deren Entscheidungsfindung ziemlich undurchsichtig ist und mindestens teilweise von waschechten belegten Verschwörungen getrieben wird, kann man angesichts von Corona schon mal auf die Idee kommen, dass es eine Verschwörung zur Abschaffung der Demokratie gibt. Das ist nicht so abwegig, wie es zunächst scheint.

Wir erleben als Gesellschaft regelmäßig reale Verschwörungen, deren Ausmaße an klassische Dystopien wie 1984 gemahnen. Wir werden alle dauernd überwacht, von Unternehmen wie von Staaten. Verbündete wie Saddam Hussein (Ex-Diktator des Irak, der mit Unterstützung der Amis gegen den Iran gekämpft hat, siehe Iran-Contra-Affäre) sind plötzlich Feinde (im Irak-Krieg; siehe Auswechselbarkeit des Feindes in 1984).

Eine Karikatur unserer realen Verschwörungs-Gesellschaft kann nur noch grotesk sein. Was soll man unseren Regierungen auch sonst noch unterstellen, was sie nicht erwiesenermaßen schon getan haben? Dennoch bleibt erklärungsbedürftig, wie so viele Menschen dermaßen absurden Verschwörungstheorien anhängen können. Die Anhänger feiern das ja nicht als Karikatur. Eine faszinierende und sehr lesenswerte Analyse dazu findet sich in diesem Artikel eines Spieleentwicklers.

Dass die ganze Querdenker-Bewegung grenz-dement wirkt, könnte auch daran liegen, dass wir immer wieder staatlich gesteuerte Provokateure sehen, die die Bewegung gezielt diskreditieren. Ich halte diese Idee für abwegig – dafür sind es tendenziell zu viele und zu konsistente dergestalte Äußerungen. Dies ist lediglich ein letztes Beispiel für reale Verschwörungen. Man muss leider immer auch in Betracht ziehen, dass man einen staatlichen Agent Provocateur vor sich hat, denn die gibt es ja nun mal leider auch tatsächlich. Es ist in der Tat sehr schwer zu beurteilen, was man noch glauben soll.

Lügenpresse

Sehr viel wahrscheinlicher wird unser Bild von der Querdenker-Bewegung durch unsere Medien stark verzerrt. Jemand der hanebüchenen Unsinn in die Kamera stammelt hat einfach sehr viel mehr Unterhaltungswert, als jemand, der sich im Wesentlichen vernünftig und besonnen äußert. Und damit bekommt er den Gesetzen unserer Medien folgend auch viel mehr Sendezeit.

Hinzu kommt, dass unsere Berichterstattung selbst von diesem Effekt abgesehen keineswegs neutral ist. Es ist sehr selten, dass unsere Presse tatsächlich Lügen verbreitet, und wenn das geschieht, wird es meist später aufgeklärt. Die Verzerrung der Nachrichtenlage geschieht nicht durch Falschmeldungen, sondern durch Priorisierung.

Diesbezüglich der auffälligste Faktor ist meiner Meinung nach die weit verbreitete und ausgeprägte pro-US-amerikanische Berichterstattung. Geschuldet ist dies wahrscheinlich auch dem Umstand, dass viele der für unsere Medien Verantwortlichen in der Atlantik-Brücke organisiert sind. Merke: Es ist keine Verschwörung, wenn es im Licht der Öffentlichkeit in einer bekannten Lobby-Organisation passiert.

Man vergleiche z.B. die Berichterstattung über Assange, der in der EU zu Gefallen der USA verfolgt und gefoltert wurde (und wird, nur ist GB nicht mehr EU) mit der über Nawalny.

Assange hat Material veröffentlicht, das der USA Kriegsverbrechen nachweist. Daraufhin wurde er von der Schwedischen Staatsanwaltschaft entgegen dem Willen der Betroffenen für Vorwürfe verfolgt, die sich mittlerweile als weitgehend haltlos erwiesen haben. In unseren Medien wurde er hauptsächlich als Sexualstraftäter dargestellt. Die andere Seite der Geschichte – mal wieder eine westliche Verschwörung – fand man auch … wenn man mit Lupe suchte.

Nawalny bekommt als Putin-Gegner hingegen sofort Asyl und wird wochenlang als Märtyrer in unseren Medien gefeiert. In einem Fall ist Assange der Schuldige, im anderen ist es Putin. Und das obwohl Putin nicht mal angeklagt wurde. Ja, ich gehe auch davon, dass Putin oder zumindest der russische Staat hinter dem Anschlag auf Nawalny steckt, aber das ist bisher reine Mutmaßung.

Wir leben in einem Rechtsstaat und wenn wir dieses Ideal – gerade vorm fiesen Putin – vor uns hertragen, dann sollten wir uns an rechtsstaatliche Prinzipien halten. Dann gilt “im Zweifel für den Angeklagten” auch für Putin und für Assange sowieso.

Ein anderes Beispiel: Die USA haben in Kundus ein Hospital von Ärzte ohne Grenzen bombardiert und sind nachher mit Panzern über die Beweise gerollt. Die Meldung dazu gabs kurz in den Medien. Aber einen diesem Terror-Anschlag angemessen wochenlangen medialen Aufschrei inklusive Berichterstattung über die Aufklärung des Vorfalls und Verfolgung der Verantwortlichen sucht man vergeblich.

Wenn möglicherweise Russen involviert sind, wie beim Abschuss einer Verkehrsmaschine über der Ukraine, dann ist wochenlang auf Titelseiten und in den Top-Meldungen der Hauptnachrichten-Sendungen für nichts anderes Platz. Das mag man angemessen finden oder nicht. Bei halbwegs neutraler Berichterstattung wäre auf jeden Fall eine vergleichbare Würdigung beider Vorgänge zu erwarten.

Eine ähnliche Asymmetrie der Berichterstattung gibt es z.B. bei Links- und Rechts-Terrorismus. Während Linksterrorismus regelmäßig als solcher benannt wird, wird Rechtsterrorismus eher als ein Einzelfall nach dem anderen behandelt – und das obwohl sich Linksterrorismus vorwiegend gegen Sachen richtet (Autos anzünden, Schaufenster verwüsten usw.) während Rechtsterroristen immer wieder Menschen ermorden (Asylheime anzünden, Menschen zu Tode prügeln …).

Wenn ich Teil einer großen oppositionellen Bewegung wäre, würde ich von unseren Medien ganz sicher keine faire Berichterstattung erwarten. “Lügenpresse” ist da ein unbeholfener, verzweifelter und leicht widerlegbarer Hilferuf. Ich kann nicht beurteilen, ob die Berichterstattung zu den Querdenkern fair und ausgewogen ist. Aber ich wäre überrascht, wenn sie es wäre.

Ich vermute, auf den Querdenker-Demos laufen sehr viele Menschen mit, deren wirtschaftliche Existenz durch die Corona-Schutzmaßnahmen bedroht ist oder bereits zerstört wurde. Statt über diese zweifellos existierenden Schicksale umfangreich zu berichten, sucht man sich die Demo-Teilnehmer, die ihrer Angst am unbeholfensten Ausdruck verleihen, hält denen eine Kamera ins Gesicht, und lässt sie sich lächerlich machen. “Arschlochmedien” wäre in diesem Fall vielleicht angemessener als “Lügenpresse”.

Man nehme zum Beispiel die 11-Jährige, die sich in Karlsruhe auf einer Bühne mit Anne Frank verglich. Völlig zu Recht findet der örtliche Ministerpräsident, das Kind sei instrumentalisiert worden. Wer die Kleine auf die Bühne gelassen hat, hat da einen echten Arschlochmove abgezogen.

Wenn nun öffentlich-rechtliche Journalisten irgendwelche verängstigten Spinner, die offensichtlich völlig unerfahren im Umgang mit nationalen Massenmedien sind, etwas von “Kinderfressen” in die Kamera stammeln lassen, dann ist das wohlmöglich auch eine (Zitat des Ministerpräsidenten) “Instrumentalisierung”, “erbärmlich und perfide”.

Zwar sind letztere i.d.R. nicht 11 sondern erwachsen, aber wir reden auch nicht von einer Bühne mit zwei Dutzend Zuschauern, sondern von Prime-Time-Sendungen auf nationalen Fernsehsendern. Von RTL ist leider kein Anstand zu erwarten, an den öffentlich-rechtlich Rundfunk, der auch von den GEZ-Einnahmen dieser seiner Opfer lebt, würde ich gerne höhere Maßstäbe anlegen können.

Ich finde es zwar richtig, diese absurden Verschwörungstheorien auch mal zu thematisieren, aber die Berichterstattung immer und immer wieder darum kreisen zu lassen, ist wieder ein Zeichen tendenziöser Priorisierung der Berichterstattung.

Als Querdenker würde ich jedenfalls ganz sicher auch nicht mit der Presse reden wollen. Zwar lügen die Mainstream-Medien anders als von Querdenkern behauptet sehr selten. Aber sie hinterlassen beim Medienkonsumenten durch tendenziöse Priorisierung der Berichterstattung ein Bild von den Querdenkern, das mutmaßlich alles andere als neutral ist. Und “Lügenpresse” funktioniert als Parole halt auch viel besser als “tendenziös priorisierendes Medienerzeugnis”.

Ego(zentr)ismus & Menschenverachtung

Nehmen wir mal an, die Corona-Sterblichkeit ohne Schutzmaßnahmen bei überlastetem Gesundheitssystem liegt bei 2%. Das ist eine eher optimistische Schätzung, Zahlen gibt es dazu nicht, weil weltweit massive Eindämmungsmaßnahmen laufen. Nehmen wir weiterhin an, bei 70% Durchseuchung ist Schluss. Wenn ich angesichts dieser Zahlen gegen Schutzmaßnahmen demonstriere, heißt das, ich nehme allein für Deutschland gut eine Millionen überwiegend alte Tote in Kauf, weil ich Maskentragen doof finde, oder um meine wirtschaftliche Existenz fürchte. Es können übrigens bei pessimistischer Schätzung auch 3 Millionen sein.

Aber die Querdenker glauben ja eher nicht an Corona. Ich nehme denen auch ab, dass sie sich überwiegend erfolgreich eingeredet haben, dass Corona nur eine Grippe ist, und entsprechend von deutlich geringeren Todeszahlen ausgehen. Gestehen wir deren Weltbild also mal zu, dass die erwartbaren Corona-Toten wie bei einer sehr, sehr schlimmen Grippe-Welle um die 100.000 liegen.

Darf ich zum Schutz der Demokratie (das ist ein zentrales Querdenker-Argument) und wirtschaftlicher Interessen 100.000 Tote in Kauf nehmen? Ich persönlich finde eher nicht. Aber der politische Konsens ist: selbstverständlich.

Bei der Flucht durch Sahara und Mittelmeer sind Schätzungen zufolge in diesem Jahrtausend um die 100.000 Menschen gestorben. Das wäre leicht und wirtschaftlich neutral vermeidbar, allerdings müssten die Afrikaner dafür in Europa ihre Asylverfahren erwarten dürfen. Und viele Millionen Asylanten (selbst, wenn die für ihre Kosten selbst aufkommen können) bedeuten ein massives Erstarken rechter Parteien. Das ist politisch nicht machbar, also nehmen wir diese Toten in Kauf.

Was uns als Vorwärtsverteidigung unserer Demokratie in Afghanistan, Irak und einem halben Dutzend weiterer islamischer Länder verkauft wurde, hat hingegen eher so über eine Millionen Leben gekostet.

Und die Menschen, die für uns unter unmenschlichen Bedingung Coltan, Uran und vieles mehr ausbuddeln, auf vergifteten Baumwollfeldern schuften, in maroden Fabriken sterben usw. usf. … sind ungezählt.

Sind Querdenker-Demos nun menschenverachtend? Ich finde schon, aber leider auch nicht signifikant schlimmer, als das Parlament, gegen die sich die Demos richten. Sie stellen wirtschaftliche und politische Interessen über Menschenleben, so wie unserer Regierung das in den dargelegten und weiteren Fällen auch tut.

Die kruden Verschwörungstheorien der Querdenker sind lediglich ein Komparativ der offengelegten und erwiesenen Verschwörungen, die wir regelmäßig erleben. Ihre Diffamierung der Medien als “Lügenpresse” ist in wörtlicher Auslegung schlicht falsch und dumm, in einer großzügigen Auslegung aber gar nicht so daneben, denn Presse zeichnet und hinterlässt durchaus regelmäßig ein schiefes Bild. Ihre Inkaufnahme von Toten für wirtschaftliche und politische Interessen ist eine konsequente Übertragung unserer Grenz-, Außen- und Handelspolitik auf die Innenpolitik.

Querdenken hat viele unserer Schwächen überzeichnet. Auf Querdenker-Demos sehen wir in einem Hohlspiegel unserer eigenes Zerrbild, eine Karikatur der dunkleren Seiten unserer Gesellschaft.

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