Screen Time

Wie kann Erziehung in die Medien-Nutzung von Kindern eingreifen und wie kann dabei eine Balance zwischen intrusiver Überwachung und Kontrolle und elterliche Fürsorge gefunden werden?

Update: Die Nutzungsbedingungen der App haben sich geändert. Eine sinnvolle Nutzung kostet nun bei realistischer Nutzungsdauer 240€. Damit kann ich die App nicht mehr empfehlen.

Liebe Eltern,

Ich verwende seit einiger Zeit eine App namens Screen Time. Doch ich möchte keine Werbung für ein konkretes Produkt machen. Sollte ich Sie also überzeugen, suchen Sie ruhig nach „Screen Time“, aber dann schauen Sie dort nach „ähnliche Apps“ oder suchen Sie gleich nach „parental control“ und suchen sich genau die App, die Ihren Bedürfnissen gerecht wird.

Das muss nicht Screen Time sein. Es gibt zum Beispiel viele Apps, mit denen Sie den aktuellen Standort ihrer Kinder verfolgen können. Ich möchte das nicht und Screen Time kann das nicht. Wenn Sie aber meinen, ihrer Aufsichtspflicht so besser gerecht zu werden und die gefühlte Sicherheit schätzen, die dieses Standort-Feature vermittelt, dann wählen Sie eine andere, ähnliche App. Aber bitte wählen Sie eine solche App!

Erziehung in Zeiten des Netzes

Denn das Leben ihrer Kinder spielt sich ab einem bestimmten Alter zu einem wichtigen Teil im Netz ab und das Smartphone Ihres Kindes ist der Schlüssel zu dieser Welt. Und wir Eltern müssen unsere Kinder auch noch erziehen und beaufsichtigen, wenn sie 12 Jahre und älter sind.

Es ist dabei schwierig, die richtige Balance zwischen intrusiver Überwachung und elterlicher Fürsorge zu finden.

Aber das Netz ist nun mal ein rauer Ort, an dem wir unsere Kinder nicht ganz allein lassen dürfen. Und so unbestreitbar sinnvoll es ist, dass unsere Kinder lernen, in dieser Welt des Netzes zu leben, so wichtig ist es, dass sie sich darin nicht verlieren.

Erzieherischer Eingriff in die Medien-Nutzung: Screen Time

Screen Time bietet dabei für mich das richtige Maß. Die App wird auf dem SmartPhone des Kindes installiert. Sie limitiert die Gesamtzeit über die täglich ausgewählte Apps verwendet werden dürfen. Welche Apps das sind, bestimmen Sie. Zu Uhrzeiten, die Sie festlegen („Schulzeit“, „Bett-Zeit“), können von Ihnen ausgewählte App gar nicht mehr benutzt werden, und zu einer ebenfalls von Ihnen festgelegten Zeit („Licht aus“), geht dann auf dem Telefon gar nichts mehr.

Außerdem werden Sie per Mail benachrichtigt, welche neuen Apps auf dem Handy Ihres Kindes installiert werden und Sie erhalten täglich eine Mail in der aufgelistet wird, wie viel Zeit Ihr Kind am Vortag mit welcher App verbracht hat. Sie sehen also, wenn z.B. die WhatsApp Nutzung überhand nimmt und können das thematisieren.

All das kostet nichts. Es entbindet Sie auch nicht davon, mit Ihrem Kind darüber zu sprechen, was es mit WhatsApp, Instagram usw. tut. Aber es hilft Ihnen, zu wissen, was Sie ansprechen sollten, ohne dass es eine meiner Meinung nach übermäßige Überwachung von jungen Teenagern bedeutet.

Gegen ein für eine App ziemlich saftiges Entgelt von 3,40€ pro Monat gibt es noch einige Features, die ich nicht getestet habe, die aber grundsätzlich sinnvoll klingen. Man installiert dazu die Eltern-App auf dem Eltern SmartPhone oder den Eltern SmartPhones (für 3,40 gibts bis zu sechs Kinder-Apps und zwei Eltern-Apps) und kann dann bei Bedarf das oder die Kinder-SmartPhones abschließen. Zum Beispiel wenn man zum Essen ruft.

Oder man kann Erweiterungen des Zeit-Budgets anbieten, wenn die Kinder dafür bestimmte Aufgaben erfüllen. Ich habe es wie gesagt nicht getestet, aber ich kann mir das ganz entspannt vorstellen. Man stellt das Zeitbudget relativ knapp ein und richtet Verlängerungen für die üblichen Aufgaben ein – Hausaufgaben, Spülmaschine ausräumen, Instrument üben, Zimmer aufräumen usw. Es wird viele Kinder geben, mit denen das Zusammenleben unter einem solchen Regime angenehmer wäre. Und die Alternative – z.B. Schimpfen – ist der Entwicklung von Kindern vielleicht noch weniger zuträglich als ein solches auch nicht über alle Zweifel erhabenes Verfahren.

Für und Wider

Viele Eltern lehnen diese Form der Überwachung, Kontrolle und Verhaltens-Lenkung ab. Ich kann das nachvollziehen, bin aber zu dem Schluss gekommen, dass in der Abwägung dieser Technologie die Argumente für ihren Einsatz deutlich überwiegen.

Da ist zunächst der raue Ort, der das Netz ist. Sie würden Ihre Kinder nicht den ganzen Tag allein am Bahnhof spielen lassen. Aber sie allein den Trollen vorzuwerfen, sie allein dem subversiven 4chan Humor auszusetzen, sie allein in die größte Porno Videothek der Welt zu schicken, kann es auch nicht sein. Die Einblicke, die Apps wie Screentime in das Nutzungsverhalten unserer Kinder geben, können helfen, die notwendigen Gespräche zum Thema in die richtige Richtung zu lenken.

Für noch wichtiger halte ich folgendes Argument. Die Währung moderner Medien ist Aufmerksamkeit. Es gibt das Geschäftsmodell, Aufmerksamkeit zu erregen um dann gezielt Aufmerksamkeitsfresser zu verkaufen – wie im Zirkus oder Kino. Für unsere Kinder relevanter ist aber das Geschäftsmodell, das sie selbst zur Ware macht. Aufmerksamkeit wird erregt um sie dann auf Werbung zu lenken. Unsere Kinder werden ausspioniert, um möglichst “passende” Werbung präsentieren zu können. Unsere Kinder sind bei diesem Geschäftsmodell das vermarktete Produkt.

Erziehung zu effizienter und selbstkritischer Medien-Nutzung

Die Technik der Aufmerksamkeits-Erregung und -Fesselung wurde über Jahrhunderte immer verbessert und hat es heute zu gruseliger Perfektion gebracht. Viele Erwachsene sind dieser Technik nicht gewachsen, geschweige denn Kinder. Eine App, die die Nutzungszeit begrenzt, kann zu einem bewussteren Umgang mit Medien erziehen. Meine Kinder sollen lernen, sich gezielt das aus dem Netz zu holen, was für sie am wichtigsten ist, nicht sich fortwährend in einer Maschine vermarkten lassen, die größer und stärker ist, als wir alle.

Von der Unmöglichkeit, Gutes zu tun

Der Grünen Abgeordnete Hans-Christian Ströbele hat den NSA-Whitsleblower Edward Snowden in Russland getroffen. Ich finde, das ist eine sehr gute Sache. Ströbele kann als Mitglied des Bundestages Dinge tun, die den meisten Menschen unmöglich sind. Er kann nach Russland reisen und genießt dort eine gewisse diplomatische Immunität. Er kann den wissenschaftlichen Dienst des Bundestages nutzen, um Rechtsgutachten zur Snowden-Frage erstellen zu lassen. So kann er klären, ob Snowden nach Deutschland kommen könnte, um als Zeuge auszusagen. Er kann die Einberufung einer parlamentarischen Untersuchungskommission zum NSA-Skandal betreiben (wobei das aufgrund der sehr kleinen Opposition im Falle einer großen Koalition vielleicht scheitert).

Ströbele setzt all diese besonderen Befugnisse für eine gute Sache ein. Er verschafft dem NSA-Skandal Aufmerksamkeit. Er entkriminalisiert Snowden indem er ihn als Zeugen statt als Angeklagten aufsucht. Vielleicht schafft er es sogar, die Regierung zu etwas genaueren Einlassungen zum NSA Skandal zu nötigen. Bisher waren diese Einlassungen von geradezu alberner Einfältigkeit und dokumentieren lediglich das völlige Versagen unserer Medien in dieser Sache. Zudem ist Ströbele von allen Bundestagsmidtgliedern jenes, dem ich am meisten moralische Integrität zutraue.

Tu Gutes; nicht um darüber zu reden

Und genau darum gruselte es mich ein bisschen, als ich die Bilder von Ströbeles Besuch bei Snowden sah. Edward Snowden braucht Aufmerksamkeit um seinen großen Mitteilungsdrang zu stillen (was ich nicht abwertend meine). Doch Snowdens Anwalt meint, Snowden könne auf keinen Fall nach Deutschland. Ströbele ist als Direktkandidat der Grünen beruflich völlig von der Medienaufmerksamkeit abhängig. Und darum kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieser ganze Besuch in erster Linie eine Show für die Medien war, eine Show, die den Beteiligten die nötige Aufmerksamkeit liefert. Und die nebenbei den Wein der guten Sache gründlich verwässert.

Dabei glaube ich in diesem Fall, dass es Ströbele und Snowden um eine gute Sache geht und sie das Aufmerksamkeitsspiel um der Sache willen spielen. In anderen Fällen – wenn es z.B. Westerwelle statt Ströbele wäre – würde ich darauf eher nicht kommen. Unser ganzes politisches System ist so von Geld, Lobbyismus und der Aufmerksamkeitsökonomie korrumpiert, dass es den Akteuren immer schwerer wird, überhaupt noch etwas Gutes zu tun, das um seiner selbst willen als solches wahrgenommen wird.

Die allgemein verbreitete Meinung dazu ist, dass das egal ist – wenn denn letztlich das Richtige dabei herauskommt. „Tu Gutes und rede darüber“. Doch ich glaube, dass das falsch ist. Zwar ist es richtig, Gutes zu tun und darüber zu reden. Doch es ist falsch, Gutes zu tun, nur um darüber reden zu können.

Menschlich Mächtig

Wir sind darauf angewiesen, Entscheidungen zu delegieren. Die einzige Alternative zu Macht-Delegation ist Basisdemokratie in der einen oder anderen Form und bisher konnte kein basisdemokratisches System demonstriert werden, das skaliert. Das bedeutet, Basisdemokratie funktioniert bisher ausschließlich in kleinem Rahmen und bricht schon bei mittleren Organisationen zusammen.

Wenn Macht delegiert wird, entsteht automatisch eine Führungsperson, die für andere Entscheidungen trifft. Und hier kommt unsere Menschlichkeit ins Spiel. Ein menschlicher Führer kann Menschen nur auf eine ganz bestimmte Art führen. Er muss Entscheidungen treffen, die die anderen respektieren. Und er muss relativ durchgängig so handeln, dass die anderen das respektieren können. Tut er dies nicht, kann er zwar prinzipiell dennoch führen, doch wird er dann nie von den anderen akzeptiert. Er wird stattdessen als – überlegener – Gegner aufgefasst.

Mein Respekt für das mediale Kasperle-Theater hält sich in Grenzen. Wenn es bei uns mal jemand schafft, als politische Führungsperson menschlich respektiert zu werden, schafft er dass nicht wegen unseres Systems sondern trotzdem. Entsprechend selten geschieht dies. Wir haben ein unmenschliches Politik-System geschaffen, das seine Delegierten und Konstituenten fast zwangsläufig zu Gegnern macht.

Für nicht-anonyme Bürgerentscheide

Es sollte mehr Bürgerentscheide geben, doch bei diesen sollten die Bürger nicht anonym sondern namentlich abstimmen.

Dies ist ein Gastbeitrag, dessen Autor nicht genannt werden möchte.

In Bielefeld waren am 22.09. nicht nur Wahlen, sondern zum ersten Mal stand auch ein Bürgerentscheid an.

Die zu entscheidende Frage lautete: Soll das Freibad Gadderbaum  teilsaniert werden oder nicht?

Grundsätzlich finde ich die Maßnahme eines Bürgerentscheids gut. Man hat das Gefühl direkt mit entscheiden zu können. Deswegen war ich auch höchst gespannt auf das Ergebnis.

Als pflichtbewusster Wähler habe ich mir das den Wahlunterlagen beigefügte Pamphlet von Anfang bis Ende durchgelesen. Zuerst das Statement vom Förderverein.

Die meinen, die Stadt soll einen Kredit aufnehmen, der hätte 20ig Jahre Laufzeit und würde demnach den Haushalt der Stadt nicht übermäßig belasten.

Dann die Standpunkte der einzelnen Ratsfraktionen, jede im Rat vertretene Partei hat ihre Meinung zur Sanierung mitgeteilt. Alle, bis auf die Linken, waren dagegen weil das benötigte Geld für Feuerwehr, Schulen, Kindergärten und Straßen fehlen würde.

Es wurde darauf hingewiesen das Bielefeld was Bäder angeht durchaus gut aufgestellt ist.

Das Freibad sollte damals als der Förderverein den Betrieb übernommen hat, schon geschlossen werden, weil es marode war. Damals war die Stadt schon nicht bereit, oder in der Lage das Freibad zu sanieren. Der Förderverein hat die Schließung also schon damals verhindert. Und so immerhin ein paar Jahre den Betrieb für die Bürger aufrechterhalten.

Eine Leistung die ich durchaus anerkenne.

Im Winter habe ich eine Schlagzeile in der Zeitung gelesen, das täglich tonnenweise Wasser aus dem leckenden Freibad in den Hang läuft, so viel, das die Gefahr des abrutschens bestand.

Für mich war die Sache klar. Feuerwehr, Schulen und Straßen sind wichtiger als eine Freibadsanierung. Zumal ja auch im folgenden die Betriebskosten von jährlich 380 000 € aufgebracht werden müssen. Von denen war in dem Pamphlet so weit ich mich erinnere gar nicht die Rede.

Seit das Ergebnis des Bürgerentscheids klar ist, die Bürger haben  mit knapper Mehrheit  für eine Sanierung entschieden, bin ich nicht mehr so sicher ob ich Bürgerentscheide gut finde.

Ich hätte den Bielefelder Bürgern doch mehr Vernunft zugetraut.

Oder lesen die das Pamphlet nicht durch? Oder lesen und glauben den Worten der von ihnen gewählten Vertreter nicht? Sondern denken nur, das ein Freibad doch eine gute Sache ist?

Bedenken die nicht, das nun der Stadtrat für jede unpopuläre Entscheidung oder für jedes Defizit die perfekte Entschuldigung hat? Wenn die Bürger nicht für das Freibad gestimmt hätten…

Ich wünschte diese Abstimmung wäre öffentlich gewesen. Dann könnte ich nachlesen welche Mitbürger dafür gestimmt haben. Wenn die sich dann beschweren das die Straßen so schlecht sind, kann man ihnen sagen, selber Schuld.

So eine Abstimmung öffentlich zu machen dürfte auch kein Problem sein, da ja die Unterschriftensammlung für den Bürgerentscheid auch öffentlich gewesen ist.

Wer dafür ist muss da ja schon drauf stehen, dann dürfte es demjenigen auch nichts ausmachen öffentlich abzustimmen.

Von Gläsern, Dietrichen und der großen Freiheit

Wir glauben Freiheit für unsere Sicherheit eintauschen zu können und verlieren dabei beides.

Meine Thesen sind radikal. Denn es sind die Kompromisse, die ich einer radikalen Realität abringe. Vor über zehn Jahren schrieb ich am ersten Entwurf der Utopie, die Thema dieses Blogs ist. Ich entwarf eine Gesellschaft, in der jeder jeden Moment seines Lebens dokumentiert. Eine Gesellschaft ohne Verbrechen, Misstrauen … Privatsphäre. Nun – etwas später als ich damals erwartete – steht das Life-Logging-Device vor unserer Tür: Google-Glass. Und ich habe meine Meinung geändert.

Wir können und müssen unsere Privatsphäre noch ein bisschen schützen. Doch um das zu tun, müssen wir unseren Begriff von Privatheit sehr viel enger fassen als es den meisten lieb ist.

Als ich mit diesem Thema anfing, gab es Handys, Digitalkameras, erste soziale Netze und Moore’s Law. Es war ziemlich klar, dass das Life-Logging-Device kommen würde. Heute sind ein paar andere Dinge ebenso klar.

2023

Ein Ausflug in die Welt von 2023 – wenn unsere Kultur bis dahin nicht kollabiert. Überwachungskameras auf öffentlichen Plätzen werden langsam bedeutungslos, weil autonome Automobile jeden Quadratzentimeter mit Infrarot, Radar, Ultraschall und Video abscannen. Mit dem Arsenal, kann man vielleicht auch schon einfache Lügendetektoren verwirklichen. Mini-Drohnen erledigen kleine Kurierdienste und liefern Sensor-Überwachung aus der Luft. Unsere Handys, Wrist-Screens oder was auch immer registrieren unsere Position, Richtung, Beschleunigung. Glass-ähnliche Geräte erfassen uns aus unmittelbarer Nähe. Jeder Druck auf einen Lichtschalter wird von einem intelligenten Stromzähler registriert. Bewegungsmelder, Heizungen, Ladegeräte und weitere Elemente des allgegenwärtigen Energie-Managements umgeben uns mit ihren Sensoren und Netzwerken.

Mehr Mauern!

Wers mag kann sich bei diesen Aussichten ordentlich gruseln und auch gleich noch mal auf Google Glass schimpfen. Ändern wird das nichts. Mich gruselt es vor der sozialen Vision, die der Mainstream für diese Zukunft vorsieht.

Wir wollen eine Welt voller Mauern und Zäune. Man kann keine paar Meter gehen, ohne vor einer Tür zu stehen. Und alle diese Türen sind fest verschlossen. Nur für ganz wenige habe ich einen Schlüssel. Was hinter diesen Türen liegt, bleibt mir verborgen. Aber einige Menschen – gar nicht mal so wenige – haben Generalschlüssel. Einige haben auch Dietriche und das Wissen, damit Türen zu öffnen.

Die Menschen mit den Generalschlüsseln bestimmen, wie das Manna dieser magischen Zukunft – die Information – durch die Knoten des allgegenwärtigen Informationsnetzes fließt. Sie legen falsche Spuren in Amazon-Bewertungen und Facebook-Profilen und zeigen den Menschen nur das, was diese sehen sollen, lenken sie dahin, wo sie sie haben wollen.

„Together the powerful spy on the powerless, and they’re not going to give up their positions of power, despite what the people want.“

Bruce Scheier in The Internet is a surveillance state

Alu gegen Freiheit

Unsere Leben verlagern sich mehr und mehr in die Welt der Information. Diese ist ein dystopischer Gefängnisstaat. Und die, die unser Streben nach Freiheit anführen sollten, die digitalen Bürgerrechtler, setzen sich Aluhüte auf und schreien nach dickeren Gefängnismauern. Was ist nur aus uns geworden? Freiheit war über Jahrtausende das Ziel, das die Beherrschten einte. Und heute? Heute geht es nicht um Freiheit, sondern um Sicherheit. Die Sicherheit einer Gefängniszelle. Wir glauben Freiheit für unsere Sicherheit eintauschen zu können und verlieren dabei beides. Ich will das nicht. Ich will Freiheit.

Doch dafür muss ich akzeptieren, was heute schon eine verdrängte Wahrheit ist. Es gibt keine garantierte Privatheit digitaler Information. Privatheit gibt es in meinem Kopf und in meinen eigenen vier Wänden – wenn ich Glück habe. Darüber hinaus wird es sehr schnell sehr dünn mit der Privatheit.  Wenn ich schon keine garantierte Privatheit jenseits eines sehr engen Bereiches haben kann, dann will ich wenigsten all die Vorteile, die Offenheit und Transparenz hat. Und ich will Freiheit.

Ich sollte wissen, was Twitter weiß

Wir haben Angst vor Twitter, Google, Facebook. Wieso kann es nicht umgekehrt sein?

Dies ist eine Entgegnung auf Martin Weigerts Artikel “Ich weiß, was du diesen Sommer twittern wirst”. Dort geht es darum, dass Daten – insbesondere Big Data – Menschen vorhersehbar machen und wie das missbraucht werden könnte – ein lesenswerter Artikel. Leider fügt er sich nahtlos in die große Menge derartiger Artikel ein, wenn er auch qualitativ eher positiv hervorsticht und das Thema immerhin differenziert betrachtet.

Das größte Missbrauchs-Potential sieht Martin Weigert in gezielter Meinungsmache zu konkreten politischen Projekten. Ja, in der Tat, Spin-Doktoren, Profi-Lobbyisten, Kampagnen-Journalisten – sie alle sind fleißig dabei die Reste unserer erodierten Demokratie zu zerstören und mit mächtigeren Werkzeugen wird das schneller gehen. Doch so weit muss man meiner Meinung nach gar nicht denken.

Wissen ist Geld ist Macht

Google, Facebook und andere können das Verhalten von Menschen beeinflussen. Diese Fähigkeit ist die Grundlage ihrer Geschäftsmodelle. Die Möglichkeit, das Verhalten von Menschen zu beeinflussen nennt man auch schnöde “Macht”. Informations-Konzerne haben sich zu gigantischen in keiner Weise legitimierten Machtzentren gewandelt.

Nutzen sie diese Macht zur Förderung des Gemeinwohls? Eher nicht. Wie alle großen Konzerne diversifizieren sie ihre Macht. Sie versuchen mehr Einfluss in der Informationswirtschaft zu erlangen, sie verdienen sehr viel Geld (= Macht) und beginnen auch politisch Einfluss zu nehmen indem sie ihre Lobby-Ausgaben erhöhen und eigene Kampagnen fahren.

Werbung für den Untergang

Dabei ist ihr Kerngeschäft die Werbung, die Förderung eines konsumeristischen Weltbildes und Lebensstils, der auf der Ausbeutung der Arbeit und Ressourcen wirtschaftlich unterlegener Kulturen basiert und unseren Planeten in atemberaubenden Tempo zerstört. Ich kann da nicht Gutes aber sehr viel Schlechtes dran erkennen.

Dennoch scheint die Einsicht recht abwegig zu sein, dass gigantische, unkrontrollierte Machtkonzentrationen an sich etwas Schlechtes sind. Warum? Warum akzeptieren wir das einfach? Weil es unvermeidlich scheint?

Machtdiffusion

Ich glaube, die offensichtliche Neigung unseres Wirtschaftssystems zu solchen Machtkonzentrationen ist ein Systemfehler – einer der sich durch eine Reihe von Eingriffen überwinden ließe, ohne dafür dieses System komplett aufgeben zu müssen. Ein wichtiger Faktor für die Neigung unseres Systems zur Machtkonzentration ist unsere Informationsgesetzgebung.

Geschichtsstunde

Es ist mittlerweile offensichtlich, dass die von uns gewährte Möglichkeit, anderen die Nutzung bestimmter Informationen zu verbieten, unmittelbar zu Machtkonzentration führt. Die Indizienkette dazu reicht von der Effizienzsteigerung der Dampfmaschine Anfang des 19. Jahrhunderts über den englischen Buchmarkt um die Mitte des 19. Jahrhunderts, die Bell-Company, IBM, Microsoft, Google bis zu Facebook.

Und in all diesen Fällen gibt es deutliche Hinweise, dass es ohne Patente, Copyright und andere Informationsschranken nicht deutlich schlechter gegangen wäre.

Nachdem das unsäglich Patent von Watt auslief, beschleunigte sich die Effizienzsteigerung der Dampfmaschine stärker als durch Watt – ohne dass die entsprechenden Entwicklungen patentiert worden wären. Der urheberrechtslose Buchmarkt in Deutschland war diversifizierter, schneller und größer als der konzentrierte englische und bot dem durchschnittlichen Autor bessere Verdienstmöglichkeiten.

Microsoft hatet Ende der 90er das Internet verschlafen und hat es dann geschafft, die Entwicklung der Web-Technologie mindestens um fünf Jahre zu verlangsamen indem sie ihren marktbeherrschenden Browser „Internet Explorer“, der für jeden Web-Entwickler eine unerträgliche Zumutung war, über Jahre nicht weiter entwickelten, manche Standards kaputt-verhandelt und andere mit ihren “Alternativ”-Entwicklungen und extra “Features” untergraben haben.

Freiheit für Information und Mensch

Was ist die Schlussfolgerung aus all dem? Information darf in der Wirtschaft keine Schranken haben. Sie, lieber Leser, Martin Weigert und ich, wir alle müssen in der Lage sein, bei Google in die Firma zu spazieren, unsere (gegebenefalls “sterilisierten”) USB-Sticks in beliebige Computer zu stecken, und zu kopieren, was uns interessiert. Wir müssen die Überwachung unserer Wirtschaft Crowd-sourcen. Und wir müssen verhindern, dass solche gefährlichen Leviathane wie Google und Facebook in Zukunft entstehen. Wir können nicht verhindern, dass andere Einfluss auf uns haben. Aber wir können verhindern, dass dieser Einfluss auf wenige Akteure konzentriert wird.

Sicherheit schlägt Privatsphäre

Big Data bedroht Privatsphäre, die schleichende Obsoleszenz des Sicherheitskonzeptes „Passwort“ erfordert Kompromisse bezüglich der Privatsphäre: Schranken im Datenozean nutzen Nutzern nicht.

Ich bin zufällig über zwei fast zeitgleich erschienene Artikel gestolpert. Beide haben unterschiedliche Themen und unterschiedliche Stoßrichtungen. Der erste befasst sich mit Big Data und seinen verheerenden Auswirkungen auf die Privatsphäre. Wie aus der Schmiede der Aluhüte – Netzpolitik.org – nicht anders zu erwarten, erschöpft er sich in einer lächerlich inadäquaten Forderung nach „Datenbriefen“, die die erfassten Daten für die geneigten Nutzer nachvollziehbar machen sollen. Naja, für Elitenerds zumindest, die eine ungefähre Vorstellung entwickeln können, was sich mit gegebenen Datensätzen anfangen lässt.

Der zweite Artikel hingegen ist ein überaus hellsichtiges Dokument. Aus seinem persönlichen harten Schicksalsschlag – dem Verlust seiner Online-Identität durch gecrackte Accounts – zieht der Autor nicht etwa die üblichen Schlüsse: Forderungen nach mehr Sicherheit, Offenlegung von Sicherheitslücken und so weiter. Nein, er hat sich auf eine Odyssee zur Erforschung von Online-Sicherheit begeben und kommt zu dem Schluss, dass Passwörter ausgedient haben.

Interessant und symptomatisch ist das, was beide Artikel verbindet: Wenn man ein paar Daten zusammen nimmt, ergeben sich plötzlich neue Informationen. Der Big Data Kritiker beklagt, dass man mit Alter, Geschlecht und Wohnort bereits die meisten Menschen eindeutig identifizieren kann. Der Passwort-Kritiker begrüßt, dass Aufenthaltsort, Stimme und Aussehen eine ziemlich gute Identifikation hergeben. Des einen Leid ist des anderen Freud.

Während unsere Alu-behüteten Landsmänner noch der Illusion digitaler Privatsphäre huldigen, hat der seiner Online-Identität verlustig gegangene Autor erkannt, dass Informationstresore nur den Banken und Tresorknackern dienen; dass in unserer Gesellschaft der Wettbewerb zwischen Privatsphäre und Effizienz keiner ist, weil Privatsphäre irrelevant wird, wenn es um Effizienz geht.

Was beide übersehen, obwohl es der Passwort-Artikel andeutet, ist das große Bild hinter beiden Phänomenen. Wir leben mittlerweile mit einem Ozean von Daten. Viele leben zu einem guten Teil darin. Der Versuch, den Ozean zu kanalisieren, Grenzen, Schranken und Barrieren einzubauen, nutzt am allerwenigsten den normalen Nutzern. Schranken dienen immer am meisten denen, die sie umgehen können. Wie so oft sind das große Konzerne und kleinere Verbrecher.

Wider die Werbung

Werbung ist einer der bedeutendsten einzelnen Faktoren unseres gesellschaftlichen Systems. Werbung ist wichtiger als Wahlen, wichtiger als der öffentlich rechtliche Rundfunk, wichtiger als der Föderalismus. Gleichzeitig ist Werbung wahrscheinlich das destruktivste einzelne Element unserer gesellschaftlichen Organisation.

Werbung ist einer der bedeutendsten einzelnen Faktoren unseres gesellschaftlichen Systems. Werbung ist wichtiger als Wahlen, wichtiger als der öffentlich rechtliche Rundfunk, wichtiger als der Föderalismus. Gleichzeitig ist Werbung wahrscheinlich das destruktivste einzelne Element unserer gesellschaftlichen Organisation.

Werbung ist eine allgegenwärtige Propagandamaschine. Das wäre nicht unbedingt schlimm, wenn sie nicht konsistent eine einzige Botschaft verbreiten würde. Doch genau das tut sie. Natürlich gibt es so viele Werbebotschaften wie Produkte. Doch jede Werbung sagt ausnahmslos „Kauf mich!“. Das hat selbstverständlich gravierende und tiefgreifende Auswirkungen auf unsere Gesellschaft.

Teufelskreis

Gleichzeitig ist Werbung selbstverstärkend. Ein immer größerer Teil unserer Gesellschaft widmet sich der Erzeugung von Aufmerksamkeit, von Aufmerksamkeit für die Botschaft der Werbung und von Aufmerksamkeit für die Werbung selbst. Werbung für schriftliche Publikationen, für Hörfunk und Fernsehangebote und auch für Internetangebote ist letztendlich Werbung für Werbung. Und so wird unsere Gesellschaft immer und immer tiefer von diesem Virus durchdrungen.

Dies alleine ist schon mehr als bedenklich. Doch die unisono verbreitete Botschaft der Werbung stiftet kaum Nutzen und erheblichen Schaden. Dieser Schaden erstreckt sich über praktisch alle Aspekte unseres Zusammenlebens, vom Privatleben über Wirtschaft und Politik bis zur Kultur.

Ich werde im Folgenden eine ganze Reihe der destruktiven Folgen der Werbung erörtern. Ich tue dies jeweils so kurz, wie sinnvoll möglich. Es ist zu beachten, dass die meisten angesprochenen Probleme nicht monokausal sind. Vieles hat mehrere Ursachen, Werbung ist immer ein Faktor von vielen – wenn auch ein oft wichtiger.

Ich bin was ich kaufe

Werbung ist das zentrale Vehikel, das in unserer Gesellschaft sozialen Status primär mit Geld und zur Schau gestelltem Konsum verknüpft. Diese Umdeutung sozialer Anerkennung ist einerseits verantwortlich für zahlreiche soziale Schieflagen unserer Gesellschaft, da so sozial destruktives Verhalten durchaus sozial positiv sanktioniert wird, andererseits ist sie in hohem Maße mitverantwortlich für die Zerstörung unseres Planeten, der dem überbordenden Konsumerismus nicht gewachsen ist.
Der letztgenannte Aspekt hängt mit einem weiteren zentralen Übel der Werbung zusammen. Werbung suggeriert als Ganzes genommen, dass der Sinn des Lebens – was immer das ist – nur über Konsum erfüllt werden kann. Damit ist Werbung zentraler Teil der allgegenwärtigen Propagandamaschine, die letztlich den scheinbar verblüffenden Siegeszug des Neoliberalismus befördert hat. Werbung ist als ganzes Propaganda für eine anti-soziale konsumeristische Politik und stellt durch ihre große Wirksamkeit eine immense Gefahr für die Demokratie dar.

Werbung ist der alleinige Motor der medialen Aufmerksamkeitsökonomie. Werbung ist der Grund, dass in kommerziellen Medien ausschließlich zählt, was (die) Aufmerksamkeit (der Zielgruppe) erregt. Sie ist somit verantwortlich für die zunehmende Skandalisierung und Verflachung des öffentlichen Diskurses, sie ist verantwortlich für die groteske Überbewertung des Terrorismus und somit der Aushöhlung der freiheitlichen Grundordnung und sie ist Verantwortlich für die Trivialisierung der Mainstream-Kultur und Marginalisierung echter Kreativität, sofern sie nicht auf Skandal und Schockeffekte setzt.

Werbung wider Marktwirtschaft

Werbung ist ein wichtiger Faktor dafür, dass in einer Marktwirtschaft größere Unternehmen zusätzliche Vorteile haben. Diese positive Rückkopplung ist einer Gründe für die fatale Tendenz zur Marktkonzentration. Werbung höhlt somit die Grundidee der Marktwirtschaft aus. Werbung wirkt. Je größer ein Unternehmen (bei gleicher Produktpalette) desto größer das Marketing-Budget pro Produkt, desto größer der Vorteil des großen Unternehmens. Dies stellt eine massive Wettbewerbsverzerrung dar.

Marktwirtschaft bedeutet (auch) Wettbewerb, Qualität, Effizienz und Innovation. Wo passt da Werbung rein? Ich laufe zwar langsamer als die anderen, gewinne aber den 100-Meter Lauf, weil ich die Punkte-Richter von mir überzeugen lasse? Genau das ist Werbung in der Marktwirtschaft. Zum Ausgleich hat Werbung keinen volkswirtschaftlichen Nutzen, außer dass sie das Wirtschaftswachstum ankurbelt. Letzteres aber nicht genug, das Problem müssen wir ohnehin anders lösen.

Werbung ist der Grund, dass Unternehmen um jeden Preis versuchen, alles, aber auch alles über jeden herauszufinden, zu speichern und weiter zu verarbeiten. So ist Werbung verantwortlich für gefährliche Informations-Ungleichgewichte (Wissen ist Macht). Werbung ist die zentrale Ursache dafür, dass Datenschutz so ein wichtiges Thema ist, dass wir bereit sind, dafür einen erheblichen Teil der digitalen Dividende zu opfern.

Sex sells

Ich vermute, dass Werbung auch für einen strukturellen Sexismus in unserer Gesellschaft verantwortlich ist. Wer schon mal mit einer schönen Frau unterwegs war weiß: Sie erregt Aufmerksamkeit. Ich behaupte, das steckt tief in unserer Biologie, damit müssen wir leben. Wie ich oben dargelegt habe, ist Aufmerksamkeit das vordergründige Ziel der Werbetreibenden. Daher dominiert in der öffentlichen Darstellung ein Frauenbild, dass auf seine aufmerksamkeitserregenden Aspekte optimiert ist. Auch die Politik scheint massiv davon betroffen zu sein. Zumindest vermute ich, dass dieser Wirkzusammenhang ursächlich für Marina Weisbands Klage ist:

In der Politik sind wenig Frauen, „weil die Zeitungen über sie nur berichten, was sie an haben, oder Heldenstories mit ihnen machen, wie sie sich als Frau durchschlagen. Weil sie erst auf politischer Linie total versagen müssen, ehe man anfängt, über das Inhaltliche zu sprechen. Weil sie unweiblich sein müssen, weil man sonst über ihre Frisuren spricht.

Ausverkauf der Demokratie

Noch gravierender sind natürlich die direkten Auswirkungen der Werbung auf die Politik. Lobbyismus ist nichts anderes als eine besondere Form von Werbung. Besonders ist dabei nicht die Wirkungsweise – Versicherungen zum Beispiel werden oft auf nahezu identische Art und Weise vermarktet – sondern das Produkt. Und die Effizienz. Das Produkt ist die Berücksichtigung der Interessen der Auftraggeber in der Gesetzgebung. Lobbyismus hat mittlerweile Ausmaße angenommen, die unsere Demokratie selbst ad Absurdum führen. Der Einfluss der Lobbyisten ist sehr viel größer als der der Wähler. Der Einfluss der Wähler sollte hierbei nicht mit dem Einfluss der Mainstream-Medien verwechselt werden, die sicherlich einen ähnlichen Einfluss haben wie die Lobbys.

Werbeverbot

All diese gravierenden Nachteile legen es nahe, Werbung zu verbieten. Dies umzusetzen wäre simpel. Schon heute gelten Werbeverbote für Alkohol und Tabak in zahlreichen Medien (im Fernsehen, bei Formel 1 Rennen usw.). Wenn Bedenken bestehen, dies könnte mit der Meinungsfreiheit in Konflikt geraten, ließe sich auch eine Form wie diese wählen: Es ist verboten, jemanden dafür zu bezahlen, einen dritten von etwas zu überzeugen. Zur hundert prozentigen Durchsetzung des Werbeverbots bedürfte es evtl. auch einer umfassenden Transparenz der Wirtschaft, für die wiederum eigene Argumente sprechen. Wie auch immer, einem Verbot stehen keine prinzipiellen Probleme entgegen.

Ohne Werbung

Es sind eher die zu erwartenden Konsequenzen, die Bedenken auslösen werden. Einerseits hängt ein ganz erheblicher Teil unseres Kulturschaffens am Tropf der Werbung. Dieser Teil unserer Kultur wäre durch ein Werbeverbot bedroht. Wie ich oben dargelegt habe, hat diese Finanzierungsform für Kultur aber sehr einseitige, nachteilige Folgen. Wie eine freie, bessere Kultur funktionieren könnte, habe ich unter anderem hier erörtert.

Wenn man von öffentlich rechtlichen Medien absieht, hängt quasi unser gesamter Journalismus von der Werbung ab. Auch dies hat, wie oben dargelegt, massive negative Konsequenzen. Doch ohne Werbung, gäbe es da gar keinen Journalismus mehr? Ich habe unter anderem hier erläutert, wie ein freierer, besserer Journalismus und öffentlicher Diskurs aussehen könnte.

Interessanter Weise müssen wir diesen alternativen Diskurs vervollkommnen, bevor wir überhaupt über die Umsetzung eines Werbeverbotes nachdenken können. Denn wie bereits dargelegt, hängt die große Mehrzahl der Medienwirtschaft und die komplette nicht-öffentlich-rechtliche Journaille am Tropf der Werbung. Etwas gegen diese Mutter aller Lobbys auszurichten, dürfte unmöglich sein.

Noch tiefgreifender wären die Folgen eines Werbeverbots für den Arbeitsmarkt. Kurzfristig würde ein solches Verbot zahlreiche Arbeitskräfte freisetzen. Zudem ist zu erwarten, dass die Wirtschaft in Ermangelung der omnipräsenten Konsumpropaganda zunächst schrumpft, was mittelfristig noch mehr Arbeitskräfte freisetzte. Doch wenn wir nicht glauben, dass wir das gesamte Wohl und Wehe unserer Gesellschaft dem unendlichen und exponentiellen Wachstum unser kaum kontrollierbaren, chaotischen Wirtschaft ausliefern sollten, dann müssen wir dieses Problem ohnehin lösen. Wie man das angehen könnte, habe ich hier erläutert.

Das Notwendige mit dem Nützlichen verbinden

Werbung hat also zahlreiche, tiefgreifende negative Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Werbung lässt sich zwar abschaffen, doch ist sie so tief mit unserem gesellschaftlichen System verflochten, dass diese Abschaffung allein einen bedeutenden Umbau unserer Gesellschaft implizieren würde. Doch diesen Umbau müssen wir ohnehin in Angriff nehmen, wenn wir unseren immer weiter beschleunigten Lauf mit dem Kopf gegen die Mauern dieses Planeten verlangsamen wollen. Und wenn wir dies endlich angehen, winkt uns eine bessere, humanere Organisation unseres Zusammenlebens.

Buchbesprechung: Toggle

Besprechung des Romans „Toggle“ von Florian Felix Weyh.

Bin ich käuflich? Natürlich. Lediglich der Preis hat mich überrascht: ein wenig heiße Luft mit der ich mein ohnehin beachtliches Ego noch etwas aufblasen darf. Ein Buch in meiner Post. Habe ich nicht bestellt, bestimmt für meine Frau. Nein, ist es nicht. Dabei ein Hinweis, dass es nicht vor dem 5.1.2012 zu besprechen sei. Ich bin ein ganz, ganz kleiner Stern am Blogger-Himmel. Wenns nicht irreführend wäre, schriebe ich „ein brauner Zwerg“. Ein Buch, genaugenommen eine „ACHTUNG! Gebundene Fahne“. Ohne Kommentar. Für den hochberühmten Blogger Thorsten „Schrotie“ Roggendorf (steht da nicht). „Bitte nicht vor dem 5. Januar 2012 besprechen“. Ich lese schon lange kaum Bücher. Keine Zeit. Natürlich habe ich das gelesen.

Kurzurteil, Maßstab

Nach dieser überflüssigen autoerotischen Einleitung mach ichs kurz: „Toggle“, ein Roman von Florian Felix Weyh (bei Amazon). Lesen? Ja! Wenn Sie mein Blog auch sonst mal lesen und zudem Roman-Rezensionen goutieren lautet die Antwort wahrscheinlich „ja“. Mein Maßstab für eine Empfehlung von Belletristik ist ihr Bezug zur Conditio Humana. Ein (fiktionales) Buch muss mir irgendetwas über den Menschen sagen. Es kann auch sprachlich herausragen, aber das trifft hier nicht im geringsten zu. Und es muss immerhin so minimal unterhaltend sein, dass ich durchhalte.

Kritik

Das Erstellen von moderner Unterhaltungsliteratur des Mainstreams ist keine Kunst. Es ist ein Handwerk, eins, das Weyh versteht. Kurze Kapitel, die gerne mit Cliffhangern enden. Mehrere Erzählstränge und Spannungsbögen von denen immer jeweils mindestens einer die Spannung hält. Reichtum, Jetset, Macht, Intrige, sinistre Weltverschwörung, pittoreske Ausflüge ins 18. Jahrhundert, ein, zwei Sprenkeln Sex. Das Übliche. Die Protagonisten sind flach, für Charakterentwicklung ist kaum Zeit zwischen den Spannungsbögen. Einzig eine Figur ist immerhin recht unterhaltsam. In ihr gelingt es Weyh, einige Aspekte der Hackerkultur zu destillieren. Dazu mischt er ein gerüttelt Maß an Spackeria was ihm vielleicht die Empfehlung des CCC kosten mag, seine Figur aber deutlich interessanter macht.

All dies macht das Buch hoffentlich einem größeren Publikum zugänglich. Denn die Hauptrolle spielen nicht Menschen. Sondern eine Formel. Jeder Autor weiß, dass er mit jeder Formel die Hälfte seiner an dem Punkt verbliebenen Leserschaft verliert. Und Weyh gelingt es, ein ganzes Buch über eine hypothetische Formel zu schreiben, dabei kontinuierlich zu unterhalten und mutmaßlich niemanden zu verschrecken. Auf die konkrete Formel – den Algorithmus – kommt es dabei nicht an.

„Toggle“ muss man wissen ist Google. Das „Toggle“-Logo auf dem Umschlag lässt daran nicht den geringsten Zweifel. Ähnlich subtil sind zahlreiche andere Bezüge auf reale Personen und Unternehmen in Weyhs Buch.

Toggle und Myface (Facebook) messen uns Menschen. Sie messen uns einen Wert zu. Und das ist beileibe nicht nur unser Wert fürs gezielte Marketing, wie Weyh anschaulich verdeutlicht: „In Myface […] bekommt man Aufmerksamkeit zugeteilt und […] auch seinen politischen und […] menschlichen Wert.“ Das ist nichts, was der Autor um seinen Plot herum konstruiert, sondern die Realität hier im Netz (Stichwort „Aufmerksamkeitsökonomie„). Und natürlich gibt es nicht nur unseren persönlichen politischen Wert sondern ebenso den der Unternehmen, denn „Toggle bestimmt die Realitätswahrnehmung der Wähler“ (man „toggle“ mal „Filterblase“ zu dem Thema). In diesem Spannungsfeld entwickelt Weyh verschiedene Dystopien/Utopien, die von bekannten Strömungen im Netz abgeleitet sind. Und im Gefecht seiner Protagonisten versteckt sich eine recht differenzierte Erörterung dieser Ideen.

Doch letztendlich sind heute Herrscher wie Beherrschte der eigentümlichen Dynamik des Netzes ausgeliefert. So legt Weyh einem seiner Protagonisten in den Mund, „[…] dass Machtfragen Resonanzfragen sind“. Und deshalb macht es langfristig auch keinen Sinn, uns ein Gesellschaftssystem aufzuzwingen. Auch nicht, wenn man das noch so clever anstellt: „Und welchen Stellenwert nimmt die Intelligenz dabei ein? […] Denselben wie im Leben […] Den einer unwillkommenen Störvariablen.“ Danke auch für diese Wahrheit, die unsere Gesellschaft so gar nicht hören will.

All dies nimmt nur einen ziemlich kleinen Teil des Romans ein. Die Hauptrolle spielt die Unterhaltung. Die ist immerhin ganz unterhaltend und vermeidet weitgehend zu groben Stuss der technikaffinen Lesern die Fußnägel aufrollen würde. Ganz ohne geht es natürlich nicht. Prominentes Beispiel ist die Auflösung des Technik-Dilemmas des Buchs. Dafür ist eben dieser Punkt eine elegante dramaturgische Wendung. Gegen so etwas zieht technische Plausibilität wohl immer den Kürzeren.

Fazit

Das Buch kann sich in vielem mit dem messen, was so die Bestsellerlisten bevölkert. Es enthält zudem sehr interessante und hochrelevante Gedanken übers Netz und seine Bewohner, die differenziert dargelegt werden. Für mich ist „Toggle“ ein Gewinn und ich wünsche ihm ein großes Publikum.

Arschlochfreie Zone

Eine Diskussion, die die Ziele und Hintergründe von KiIsWhoWi verdeutlicht.

Ich marodierte so durchs Netz, da animierte mich ein Bild zum Klugscheißen. Was folgte war eine wundervolle Diskussion, die relativ knapp einige zentrale Aspekte der KiIsWhoWi Idee verdeutlicht. Diese Diskussion ist unten ungekürzt wiedergegeben. Dank an den anonymen Spender, der mir seine Gedanken für mein Blog geschenkt hat!

Neulich im Netz

Ich: Hach, schön, muss ja jeden ansprechen, der sich für einen Intellektuellen hält. Leider Quatsch. The whole problem with the world is that wir einen Arschlochselektor aus ihr gemacht haben. Und die weisen Arschlöcher sind die schlimmsten.

Er: Der Gefahr, dass man mit solch einem Post als sich im eigenen Lichte sonnender Intellektueller rüberkommt, war ich mir bewusst 🙂

Aber kannst du den „Arschlochselektor“ etwas genauer definieren?

Ich: Das Problem ist nicht, dass Du Dich im eigenen Licht sonnst, sondern dass Du mir in der Sonne stehst 😉

Meine These ist, dass nicht Gier nach Geld, Macht oder was auch immer die meisten Menschen antreibt, sondern „Gier“ nach sozialer Anerkennung. Unsere Gesellschaft bevorzugt in allen öffentlichen Belangen anti-soziales Verhalten. Das wichtigste Maß für soziale Anerkennung ist bei uns Geld und das zu erlangen – vor allem in größeren Mengen – geht i.d.R. leichter antisozial. Das gilt besonders für größere wirtschaftliche Macht. Die Studie über Investment-Banker und Soziopathen kennst Du wahrscheinlich. Politische Macht basiert meist auf Abgrenzung statt Integration (Position deutlich machen), darauf politische Gegner schlecht zu machen (völlig unabhängig davon ob sie gerade etwas Vernünftiges sagen oder tun) und politisch Gleichgesinnte zu benutzen oder auszuschalten. Das durchzieht unsere ganze Gesellschaft.

Und gleich noch Klarstellung, weil das sonst falsch verstanden werden muss: Ich finde Wettbewerb prima. Nur sind unsere Erfolgsmaßstäbe beschissen.

Er: Hm, ich glaube nicht, das „wir“ die Welt erst dazu gemacht haben. Gier oder – dezenter ausgedrückt – der Wunsch nach sozialer Anerkennung in welcher Ausprägung auch immer war meiner Meinung nach immer schon Antrieb der Menschheit. In den afrikanischen Steppen war das nur in kleinem Maßstab möglich, heute geht das global und mit ungleich größeren Auswirkungen auf Andere. Der Wunsch nach sozialer Anerkennung spiegelt sich im Kleinen nicht zuletzt auch in den +1-Buttons in sozialen Netzwerken wider.

Dazu passt ein anderes Zitat: wir müssen die Menschen nehmen, wie sie sind. Es gibt keine anderen.

Ich: Ja, da stimme ich voll zu. Aber wir können die Maßstäbe des Erfolgs ändern. Nicht, dass das leicht wäre …

Er: Das kann jeder nur für sich selbst machen und hoffen, dass er nicht allein bleibt damit. Eine Eskalation, wie wir sie derzeit erleben, kann sogar hilfreich sein, viele dazu zu veranlassen, ihre Maßstäbe zu überdenken.

Ich: Nein, das kann nicht jeder nur für sich allein tun. Wie Du richtig festgestellt hast, spielt heute der +1 Button eine nicht unwesentliche Rolle. Das war früher nicht so, das ist eine Änderung der Maßstäbe und die habe ich nicht für mich selbst gemacht.

Er: Die hast du nicht gemacht, aber du kannst sie nutzen oder eben nicht. Du kannst für dich selbst entscheiden, was dir als Maßstab für den „Wert“ anderer Menschen wichtig ist und sie danach beurteilen.

Ich: Na, da überschätzt Du das Individuum glaube ich etwas. Ich vermute die aktuelle Ausgestaltung der gesellschaftlichen Erfolgsmaßstäbe geht wesentlich auf den Calvinismus zurück. Das Internet gibt uns die Chance, neue Maßstäbe zu etablieren, tatsächlich geschieht das bereits. Natürlich geschieht es wieder einmal nicht bewusst. Mal schaun, was diesmal daraus wird.

Er: Ich habe keine hohe Meinung vom Individuum. Aber wer sagt denn, dass meine Maßstäbe die global seeligmachenden sind? Wer dürfte denn für alle entscheiden, nach welchen Maßstäben wir leben sollten? Das würde ich eventuell noch Nelson Mandela in die Hand geben, dann wird’s aber schon dünne. Ich kann nur für mich nach den Maßstäben leben, die ich als richtig empfinde. Und die Mitglieder der „Gesellschaft“, in der ich mich bewege, nach Möglichkeit danach aussuchen. Welche anderen Möglichkeiten gäb’s denn noch, darauf Einfluss zu nehmen? Die Macht des Kollektivs im Internet? Die setzt sich auch aus lauter Individuen zusammen.

Ich: Ich find anti-soziales Verhalten doof und scheinbar geht das den meisten Menschen so. Also brauchen wir „nur“ dafür zu sorgen, dass das sehr schwer zu verstecken ist, schön dokumentiert wird und für alle immer fein abrufbar ist.

Er: Und das soll dann diejenigen von unsozialem Verhalten abhalten, denen das jetzt schon am A… vorbei geht? Ich bin ja noch desillusionierter als Du 😉

Ich: Ja soll es. Ich will eine SmartPhone App, die einen hörbaren Alarm auslöst, wenn mir ein Arschloch gegenüber steht (natürlich nach Maßgabe meiner Filtersouveränität). Das dauert noch ein paar Jahre, dann ist das technisch machbar. Und es könnte die Welt verändern.

Er: Die App für die arschlochfreie Zone? Dafür wär‘ ich sogar bereit einen Jailbreak zu machen, falls die im Apple-Zulassungsprozess hängen bleiben sollte!

Postjournalismus, Postprivacy

Das Video eines prügelnden Richters – von seiner Tochter, dem Opfer aufgezeichnet – illustriert das Ende der Privatheit und die Anfänge des postkommerziellen Journalismus.

Achtung, dieses Video ist starker Tobak. Es zeigt die Misshandlung eines 16 jährigen Mädchens durch ihren Vater und ihre Mutter. Es zeigt auch einen Richter – den Vater – mit offensichtlich bestürzendem Urteilsvermögen. Das Video ist nicht zuletzt ein Dokument des schleichenden Endes der Privatheit und ein frühes Dokument (es ist von 2004) des postkommerziellen Journalismus.

Postprivacy

In meinem Haushalt gibt es zwei Smartphones mit Audio/Video, es gibt eine klassische Videokamera, einen Fotoapparat mit rudimentärer Videofunktion und bald bekomme ich eine Webcam. Das sind vier vollwärtige Audio/Video Aufzeichnungssysteme und wenn meine Kinder älter werden, werden es wahrscheinlich noch zwei mehr. Das unten verlinkte Video illustriert einen (positiven) Aspekt der so einziehenden Postprivacy: Es wird schwerer Barbarei hinter bürgerlicher Fassade zu verstecken. Wer sich für mehr meiner Gedanken über Postprivacy interessiert, sei auf diesen Artikel verwiesen.
Im zweiten Teil erweitere ich zeitgenössische Postprivacy-Entwürfe um ein juristisch garantiertes Recht auf Pseudonymität.

Postjournalismus

Wenn jeder jederzeit eine Videokamera in der Tasche hat, ändert sich das „Geschäftsfeld“ des Journalismus grundlegend. Ich hoffe es verschwindet komplett. Das Video wurde von der Tochter des Richters aufgezeichnet und (wohl lange nach der Misshandlung) veröffentlicht. Da es das unzulängliche Urteilsvermögen eines Richters dokumentiert, ist es von eminentem öffentlichen Interesse. Es wurde über zahlreiche Blogs und soziale Netzwerke verbreitet. Es gibt jetzt eine offizielle Untersuchung des Falls und der Richter verliert möglicherweise sein Amt. Es handelt sich um eine Straftat, die aber verjährt ist. Mehr Details z.B. hier.

Dies ist ein ziemlich klarer geradliniger Fall. Es gibt ein Dokument, das die komplette Problematik deutlich illustriert, das wurde über die üblichen Kanäle verbreitet, nun ist es öffentlich und Konsequenzen bahnen sich an. Oft besteht Journalismus aber darin, dass viele Fakten zusammengetragen werden. Auch hierfür gibt es Beispiele. Hier habe ich z.B. auf eine Analyse von Cablegate Depeschen durch einen Blogger hingewiesen. Diese Analyse fördert meiner Ansicht nach Erschütterndes zutage.

Die Allgegenwart von Aufzeichnungsmitteln, Twitterern und Suchwerkzeugen wird uns in Zukunft auch deutlich komplexere – und kooperative! – Recherchen und Analysen durch Amateure bringen, zahlreiche Ansätze sind bereits erkennbar. Ich halte das für eine durchweg positive Entwicklung. Hier zeichne ich das Bild eines künftigen freien Journalismus etwas ausführlicher.