Herrscherkaste
Guten Tag, mein Name ist Thorsten Roggendorf. Ich lebe so grob das Leben der Klasse, die uns beherrscht. Nicht die, die letztendlich entscheiden, wo’s lang geht. Das ist ein kleiner Club. Man kennt sich in der Gemeinde oder halt im Umfeld seines Einflussbereichs. Ich gehöre nicht zu den 0,1% oder den Top-Politikern.
Unterhalb von denen, die bei uns die Entscheidungen treffen, gibt es eine große Klasse von Leuten, die für die Umsetzung der Entscheidungen sorgen. Das sind Menschen, die über die Gesundheit anderer herrschen. Die Bauten und Projekte planen. Die die Auslegung des Rechts betreiben. Die andere bei der Umsetzung aller Pläne anleiten. Die Meinungen und Kaufwünsche beeinflussen. Die uns ausbilden.
Ich bin nur ein kleines Rädchen in dem Getriebe. Ich helfe Software zu entwickeln, die anderen hilft, Gebäude und Städte zu automatisieren. Jede Software erledigt Arbeit, oft Arbeit, die sonst von Menschen gemacht werden müsste. Man investiert ja nur in die Entwicklung von Software, weil man glaubt, dass sich die Investition lohnt. Lohnen kann sie nur, wenn sich anderswo durch die Software genug einsparen lässt, um die Investition – und mehr – wieder rauszuholen. Und einsparen tut man durch Software meist Arbeitskraft. Software-Entwickler bestimmen also Arbeitsabläufe, oft solche ohne oder mit geringer menschlicher Beteiligung.
Und Software – leider nicht meine – ist so gut, dass die Automatisierung jetzt diese Klasse selbst angreift. Diese Klasse, die ich kenne. Meine Bekannten und Verwandten sind Ärzte, Anwälte, Professoren, Manager und Lehrer. Ich wohne, wo sie wohnen. Und Software ersetzt jetzt Pharmazeuten, Ärzte, Anwälte und Wissenschaftler. Langsam wirds interessant.
Herrenhaltung
Ganz überwiegend wohnen hier junge Familien mit Kindern zwischen 5 und 15. Auch einige etwas Ältere haben sich ihren Traum vom eigenen Heim verwirklicht. Die Häuser sind um die 5 Jahre alt und gehören den Banken. In dieser halben Dekade sind noch nicht allzu viele Existenzen gescheitert und so stehen die meisten bürgerlichen Fassaden noch. Nur der Mann, dessen Frau in die Klapse gekommen ist, der hat dann eine Phillipina geheiratet. Aber der hat vorher auch schon niemanden gegrüßt – Vorsehung oder vorhergesehen? Die eine oder andere gescheiterte Ehe bleibt vorerst wegen der Kindern zusammen. Die ersten Herzanfälle schlagen ein, der Krebs eines Ernährers zerfrisst die ganze Familie.
Doch das sind nicht die Probleme, die man so in der Nachbarschaft bespricht. Neulich wurde eingebrochen. Das ist immer mal wieder Thema. Oder der Garten. Letzterer sollte Blick-dicht sein. Einbruch, Blick-dicht – die Einfamilienhäuser und Doppelhaushälften in der Vorstadt sind auch Burgen, die die Einwohner vor der feindlichen Welt da draußen schützen sollen. Ein Einbruch ist für die Bewohner – besonders für die Bewohnerinnen – immer auch ein Trauma.
Das Leben auf der Straße und im Garten findet Tags statt. Nachts zieht man sich in den Schutz der Burg zurück. Man unterhält sich, spielt, sieht fern. Vielleicht geht man auch aus. Wenn man dann aber nach hause kommt, geht man meist schnell in Haus. Die Bewohner kennen ihr Viertel nachts wenig. Als ich unser Viertel das letzte mal nachts etwas intensiver erlebt habe – mitten in den Sommerferien, Hochsaison der Einbrecher – habe ich nach eben diesen Ausschau gehalten.
Nachts im Neubaugebiet
23:00 Uhr, Frau und Kinder schlafen. Keine Glotze, keine Musik. Das Haus ist jetzt sensorisch eine relativ simple Umgebung. Die Sinne halten nur den Körper auf Kurs, die Umwelt entspricht komplett dem mentalen Modell ihrer selbst. Wenn es doch mal Abweichungen gibt – unerwartete Geräusche, etwas ist nicht an seinem erwarteten Platz – wird sofort ein interner Alarm ausgelöst und die Konzentration richtet sich weitgehend auf die Modell-Abweichung.
Vorbei am Kamin, intensive Infrarot-Strahlung brandet an den Körper. Durch die Küche, das Geräusch der Lüftung wird deutlicher vernehmbar. Nach der Taschenlampe strecken, einstecken, in den Flur. Temperaturabfall um ein paar Grad, hier bin ich jenseits der Kaminzone. Tür zu. Jetzt leise sein, im Flur trennt mich – wenn überhaupt – nur je eine Tür von meiner schlafenden Familie. Hinsetzen, die Bank knarrt. In die Schuhe, Schnürsenkel binden.
Durch die Haustür. Die Luft ist erstaunlich warm für Ende Oktober. Ich trage nur ein Fleece-Hemd über dem T-Shirt. Es ist angenehm. Die Bewohner des Viertels haben sich in ihren Burgen verschanzt. Dennoch ist erstaunlich viel los. Geräusche werden durch die Stille der Nacht weit getragen.
Menschen lassen ihre Hunde ein letztes mal pinkeln und Tretminen verteilen. Sammeln die Besitzer auch im Schutz der Dunkelheit die stinkenden Hinterlassenschaften ihrer Tiere ein? Wahrscheinlich manche, die Heiligen unter den Hundehütern. Heilige Scheiße.
Im sensorischen Chaos des modernen Tages sind die Sinne voll damit beschäftigt, all das Zeug wegzuwerfen, das gerade nicht unbedingt wichtig erscheint, in der Beschaulichkeit der nächtlichen Wohnung reduzieren sie sich auf einen glorifizierten Kompass. Doch jetzt hier, wo man Menschen in zweihundert Metern Entfernung über den Kies laufen hört, erinnern sie sich ein bisschen an ihre urtümliche Funktion – alles aufsaugen, was geht, und aus den verfügbaren Fragmenten ein möglichst genaues Bild der Umwelt in den Kortex zeichnen.
Meine eigenen Schritte auf dem Kiesweg sind erstaunlich laut. Spielt das bei der Wahl des Belages eine Rolle? Dass man Passanten hört, auch wenn man sie nicht sieht? Jetzt ist es auf jeden Fall angenehm. Von hinten kommt ein Fahrrad. Ich schalte die Taschenlampe an und leuchte den Boden neben meinen Füßen an während ich weiter gehe. Ich höre das Rad noch, es fährt, aber kommt nicht mehr näher. Es dauert etwas, bis ich begreife, dass das Rad auf den Weg nach schräg links abgebogen ist. Lampe aus.
Wenn jemand in gleichem Tempo hinter mir geht – oder ich hinter jemandem – ändere ich meist das Tempo, weil ich es nicht mag, wenn ich jemanden kurz hinter mir höre, und ich glaube, dass auch andere das so empfinden. Auf dem Weg von Links gehen zwei in meine Richtung, die sich unterhalten. Ich höre nicht, worum es geht. Ich habe kein Ziel, ich biege links auf die Wiese ab, auf den Hügel, zu den Steinen über dem Spielplatz. Die zwei gehen hinter mir vorbei.
Vor mir ist der Neubau der Fachhochschule. Die graugrüne Fassade ist hell erleuchtet. In der milden, klaren Nacht wirkt sie seltsam nah, wie sie sich vor mir erhebt. Die Schritte sind jetzt genau hinter mir. Es muss ein seltsames Bild für die Passanten sein, wenn sie aus ihrem Gespräch auf, zu mir blicken. Ein einzelner Mann, nachts, auf einem Grashügel, auf ein paar Steinquadern, still, meine Silhouette zeichnet sich deutlich vor der hellen Fassade ab.
Vielleicht ist es auch gar nicht seltsam. Ich weiß nicht, was nachts normal ist, ich bin so selten nachts spazieren. Die Luft ist nicht normal. Die gehört einem Spätsommerabend und hat sich irgendwie hier hin verlaufen. Nächste Woche wird es Frost geben und dann November-Wetter, kalter Regen. Aber heute hat sich der Sommer noch mal aufgerafft und erinnert uns, dass wir gefährliche Spielchen mit der dünnen Lufthülle unseres Planeten spielen. Heute T-Shirt, nächste Woche Wintermantel.
Die Schritte entfernen sich langsam. Ich schaue immer noch unentwegt unbewegt auf die helle Fassade umgeben von dunkler Nacht. In meinem starren Blick beginnt die Perspektive zu wabern. Seltsam nah, nach oben seltsam näher. Eine graugrüne Betonwelle, erstarrt in dem Moment, als sie über das Neubauviertel brechen sollte.