Meine Thesen sind radikal. Denn es sind die Kompromisse, die ich einer radikalen Realität abringe. Vor über zehn Jahren schrieb ich am ersten Entwurf der Utopie, die Thema dieses Blogs ist. Ich entwarf eine Gesellschaft, in der jeder jeden Moment seines Lebens dokumentiert. Eine Gesellschaft ohne Verbrechen, Misstrauen … Privatsphäre. Nun – etwas später als ich damals erwartete – steht das Life-Logging-Device vor unserer Tür: Google-Glass. Und ich habe meine Meinung geändert.
Wir können und müssen unsere Privatsphäre noch ein bisschen schützen. Doch um das zu tun, müssen wir unseren Begriff von Privatheit sehr viel enger fassen als es den meisten lieb ist.
Als ich mit diesem Thema anfing, gab es Handys, Digitalkameras, erste soziale Netze und Moore’s Law. Es war ziemlich klar, dass das Life-Logging-Device kommen würde. Heute sind ein paar andere Dinge ebenso klar.
2023
Ein Ausflug in die Welt von 2023 – wenn unsere Kultur bis dahin nicht kollabiert. Überwachungskameras auf öffentlichen Plätzen werden langsam bedeutungslos, weil autonome Automobile jeden Quadratzentimeter mit Infrarot, Radar, Ultraschall und Video abscannen. Mit dem Arsenal, kann man vielleicht auch schon einfache Lügendetektoren verwirklichen. Mini-Drohnen erledigen kleine Kurierdienste und liefern Sensor-Überwachung aus der Luft. Unsere Handys, Wrist-Screens oder was auch immer registrieren unsere Position, Richtung, Beschleunigung. Glass-ähnliche Geräte erfassen uns aus unmittelbarer Nähe. Jeder Druck auf einen Lichtschalter wird von einem intelligenten Stromzähler registriert. Bewegungsmelder, Heizungen, Ladegeräte und weitere Elemente des allgegenwärtigen Energie-Managements umgeben uns mit ihren Sensoren und Netzwerken.
Mehr Mauern!
Wers mag kann sich bei diesen Aussichten ordentlich gruseln und auch gleich noch mal auf Google Glass schimpfen. Ändern wird das nichts. Mich gruselt es vor der sozialen Vision, die der Mainstream für diese Zukunft vorsieht.
Wir wollen eine Welt voller Mauern und Zäune. Man kann keine paar Meter gehen, ohne vor einer Tür zu stehen. Und alle diese Türen sind fest verschlossen. Nur für ganz wenige habe ich einen Schlüssel. Was hinter diesen Türen liegt, bleibt mir verborgen. Aber einige Menschen – gar nicht mal so wenige – haben Generalschlüssel. Einige haben auch Dietriche und das Wissen, damit Türen zu öffnen.
Die Menschen mit den Generalschlüsseln bestimmen, wie das Manna dieser magischen Zukunft – die Information – durch die Knoten des allgegenwärtigen Informationsnetzes fließt. Sie legen falsche Spuren in Amazon-Bewertungen und Facebook-Profilen und zeigen den Menschen nur das, was diese sehen sollen, lenken sie dahin, wo sie sie haben wollen.
„Together the powerful spy on the powerless, and they’re not going to give up their positions of power, despite what the people want.“
Bruce Scheier in The Internet is a surveillance state
Alu gegen Freiheit
Unsere Leben verlagern sich mehr und mehr in die Welt der Information. Diese ist ein dystopischer Gefängnisstaat. Und die, die unser Streben nach Freiheit anführen sollten, die digitalen Bürgerrechtler, setzen sich Aluhüte auf und schreien nach dickeren Gefängnismauern. Was ist nur aus uns geworden? Freiheit war über Jahrtausende das Ziel, das die Beherrschten einte. Und heute? Heute geht es nicht um Freiheit, sondern um Sicherheit. Die Sicherheit einer Gefängniszelle. Wir glauben Freiheit für unsere Sicherheit eintauschen zu können und verlieren dabei beides. Ich will das nicht. Ich will Freiheit.
Doch dafür muss ich akzeptieren, was heute schon eine verdrängte Wahrheit ist. Es gibt keine garantierte Privatheit digitaler Information. Privatheit gibt es in meinem Kopf und in meinen eigenen vier Wänden – wenn ich Glück habe. Darüber hinaus wird es sehr schnell sehr dünn mit der Privatheit. Wenn ich schon keine garantierte Privatheit jenseits eines sehr engen Bereiches haben kann, dann will ich wenigsten all die Vorteile, die Offenheit und Transparenz hat. Und ich will Freiheit.